Montag, 22. März 2010

Auszüge aus *Hüter des Lichts*


Robert starrte an die Decke. Der Schnee vom Hang gegenüber verlieh ihr einen bläulich-hellgrauen Schimmer. Von Ferne bellte ein Hund. Ja, einen Hund wollten sie sich anschaffen, aber erst wenn die Kinder groß genug gewesen wären. Einmal Neuseeland sehen. Die Alhambra. Taj Mahal …

Gitte zog die Wolldecke höher. Sie bemerkte nicht, dass das Buch von ihrem Schoß auf den Boden fiel. Eine Melodie. Gitte folgte ihr den Flur entlang zum Wintergarten. Ja, jetzt konnte sie sie deutlich hören. Es klang wie ein Kinderlied, doch sie kannte es nicht. Gitte betrat den Raum. Regen trommelte an die Fenster. Blitze zuckten durch die Nacht, doch nicht ein Donnerschlag folgte. Die Lichtgestalt saß im Schaukelstuhl und summte ein Lied für das Kind in ihren Armen. Nun hob sie ihr Haupt, sah Gitte an und erhob sich. Der Schaukelstuhl stand plötzlich still. Gitte tat einen Schritt auf das Lichtwesen zu, wollte etwas sagen, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Das Wesen lächelte und schien ihr etwas mitzuteilen, das Gitte nicht hören konnte, so sehr sie sich auch bemühte, es zu verstehen. Die Gestalt bewegte sich auf sie zu. Schwerelos.
Das Kind, war es ihres? Gitte lachte und weinte zugleich, streckte ihre Arme aus. Das Lichtwesen blieb stehen. Es sendete Gitte einen Blick, der in ihr eine warme Welle der Zuversicht auslöste und sie dennoch verhalten ließ. Sie hatte das Gefühl, das Wesen teile ihr etwas mit, das sie nicht zu hören vermochte. Sie sah, dass das Wesen kein Wort mit den Lippen formulierte und doch nahm Gitte eine Flut von Gedankenbildern wahr, die definitiv nicht ihrem eigenen Willen, ihrem Geist entsprangen.
Gitte fühlte sich, als säße sie in einem Karussell, versuchte, ein klares Bild zu erfassen – wenigstens eines! Ihre Hände ballten sich, die Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen ein. Sie spürte es kaum. Sie MUSSTE die Botschaft dieses Wesens begreifen! Ihr Karussell drehte sich schneller und schneller! Das Wesen mit dem Kind – nur noch ein Schemen, ein fliehendes Licht!
„Bleib. So bleib doch!“ Gitte schreckte auf, so heftig, dass der Schaukelstuhl, in dem sie lag, rasch auf und ab wippte. Ein Schmerz bohrte sich in ihren Ellenbogen. Als sie hin greifen wollte, spürte sie die tiefen Kerben in ihrer rechten Hand. An den Fingern der Linken war Gips unter den Nägeln und brannte wie Feuer im Nagelbett.
„Gitte, was ist?“ Robert stand plötzlich in der Tür. „Du hast so laut geschrien!“

...

Gitte schob ihr Frühstücksbrett beiseite, nahm einen Schluck Kaffee und musterte ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg. „Glaubst du eigentlich an Träume, Robert?“ Er verzog keine Miene, stand auf, nahm ihres und sein Brett und trug sie in die Küche. Dann ging er zum Ofen, nahm die Kanne Kaffee und goss sich ein.
„Du auch?“
„Danke, nein.“
Robert stellte die Kanne wieder auf den Ofen und setzte sich wieder.
„Nun, was hältst du von Träumen?“
„Wieso fragst du?“
„Jetzt weich nicht aus. Sags mir einfach.“
Robert ruckte auf seinem Stuhl hin und her, als säße er unbequem, dabei zog er erst die eine und dann die andere Schulter hoch und ließ sie wieder sinken.
„Na ja, Träume können schon etwas Gutes sein und sie sind wichtig, glaub ich, damit man nicht verrückt wird.“
„Du weißt, dass ich was anderes von dir wissen will, Robert. Also?“
„Ähem, na gut. Träume sind gut und schön, aber nicht mehr. Man sollte sich nicht zu sehr in so was rein steigern.“
„Meinst du?“
Robert nickte.
„Also, ich seh das anders.“
„Hat das irgend etwas damit zu tun, was du neuerdings träumst?“
„Zum Beispiel. Aber nicht nur. Ich denke, Träume sind ein Instrument des Unterbewusstseins, Geschehnisse aufzuarbeiten, aber auch Dinge, die man nicht getan hat, weil man sich lieber für einen anderen Weg entschieden hat. Ich bin auch überzeugt davon, dass Träume Wegweiser sind oder zumindest sein können. Sie zeigen Möglichkeiten auf und sie lassen uns manchmal Abenteuer erleben, auf die wir uns normalerweise niemals eingelassen hätten. Manchmal sind Träume auch einfach nur Metaphern, die mehr Bedeutungen beinhalten, als es auf den ersten Blick erscheint.“ Gitte stutzte.
„Was ist? Erzähl weiter, Schatz.“
Sie schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Das ist es, klar! Metaphern! Das sind Metaphern, die es mir sendet.“
„Was meinst du?“
„In diesen Träumen, das Lichtwesen, es sendet mir immer wieder Bilder. Es ist wie ein Bilderkarussell und ich bringe sie beim besten Willen in keinen Zusammenhang. Dabei ist das doch ganz simpel, weil jedes Bild für sich zu sehen ist und nicht in unbedingtem Zusammenhang mit den anderen. Jedes Bild enthält eine Metapher. So muss es sein!“
„Liebes, mach dich doch nicht verrückt deswegen, das sind nur Träume ohne jede Bedeutung!“
„Du kennst diese Träume nicht, Robert. Sie sind anders. Ich kann das nicht beschreiben. Irgendwie alles durchdringend. Die Bilder sind vielschichtig wie mehrfach belichtete Fotos und ich glaube, man darf sich nicht krampfhaft bemühen, sie zu entziffern. Eher muss man sie ihre Wirkung, ihren Sinn selbst entfalten lassen.“
Robert beugte sich vor, seine Stirn lag in Falten als er sie unter hoch gezogenen Augenbrauen hervor ansah. „Meinst du nicht, dass du jetzt ein klein wenig übertreibst?“
Gitte lehnte sich zurück und schürzte die Lippen. „Nein. Überhaupt nicht. Versteh doch, dieses Wesen will mir etwas mitteilen, das uns beide, dich und mich, betrifft – unser Leben und, ich bin überzeugt davon, dass das auch etwas mit unserem Kind zu tun hat.“
„Wir haben doch gar kein Kind, Gitte! Schon vergessen?“
„Noch nicht, Robert. Noch!“
„Du bildest dir doch nicht etwa ein, dass diese Kreatur, von der du träumst, etwas damit zu tun hat, ob wir endlich mal Kinder haben werden.“
„Warum nicht?“
„Jetzt hör aber auf! So’n Quatsch“
Gittes Augen strahlten unter ihren Wimpern hervor.
Robert winkte ab und lehnte sich zurück.
„Ach genug davon.“ Er sah durch das Fenster hinüber zum Garten. „Du, ich habe mir Gedanken gemacht, wie Fienes Gruft aussehen könnte.“

...

Gitte warf die Decke zurück, Bilder sausten ihr durch den Kopf und hatten den Schlaf vertrieben. Sie versuchte das Zifferblatt des Weckers zu entziffern, aber es war noch zu dunkel. ‚Egal, ich bin hellwach und bis ich wieder eingeschlafen bin ist es sowieso Zeit zum Aufstehen.’ Sie zog sich leise an und ging hinunter in die Küche. Wenige Minuten später brodelte schon das Wasser. Gitte spuckte den minzigen Schaum ins Waschbecken, steckte die Zahnbürste in ihr Glas zurück, griff hastig mit beiden Händen ins Handtuch und tupfte sich das Gesicht trocken. Sie nahm ihre Lieblingstasse aus dem Abtropfkorb, maß zwei Teelöffel Kaffee ab und goss ihn auf. Der Geruch von Zahncreme mischte sich mit dem Duft des Kaffees. Sie ging mit ihrer Tasse zum Küchentisch und setzte sich an ihren Platz, wo sie schon Stift und Block bereit gelegt hatte. Sie pustete in ihren Kaffee und setzte die Tasse an den Mund, setzte sie aber sogleich wieder ab und begann zu schreiben:
Fünfter Traum (Vision?)
Diesmal in der Werkstatt, dort, wo ich mir den kleinen Arbeitsplatz eingerichtet habe, um die Figuren für Fienchens Gruft zu formen. Ich arbeitete an der Katze aus Ton, als ein goldener Lichtschein auf meine tonverschmierten Hände fiel. Ich hatte nichts zuvor bemerkt, keinen Laut, nichts. Ich drehte mich zur Seite und da stand es, das Lichtwesen. Es war allein und nickte mir zu. Wie immer, wirkte es freundlich und erhaben zugleich. Ich verbeugte mich leicht, sagte aber nichts (ich glaube, wenn man es anspricht, verschwindet es). Dann hielt es beide Hände über meinen Kopf und obwohl es mich nicht anfasste, spürte ich seine Berührung am ganzen Körper. Es fühlte sich an wie warmer Schnee der in mich hinein rieselte. Jede Faser in mir schien ihn aufzusaugen und bald hatte ich das Gefühl angnehmer Weite in mir, meinem Kopf, meinem Herzen und in meinem Bauch. Dann kamen die Bilder. Oder, war es nur eines, das wie ein Vexierbild mehrere Bilder enthielt – man muss sie nur auf sich wirken lassen und den Blickwinkel verändern?
Zuerst sah ich eine Höhle mit unzähligen ovalen Luken. Sie war offensichtlich bewohnt. Vor der Höhle befand sich eine Art weitläufiges Portal, das nach außen wie ein Schutzwall aussah, nach innen zur Höhle hin aber mit vielen Stufenreihen versehen war, die im Halbkreis um den Eingang zur Höhle angeordnet waren. Direkt vor dem Eingang stand eine lange steinerne Tafel und eine Bank, ebenfalls aus Stein. Ich hatte das Gefühl, ich könne fliegen – überall hin, in jede Ecke, jede Luke. Und das versuchte ich. Es gelang mir, näher an eine dieser Luken heran zu fliegen, doch bevor ich hinein schauen konnte, wechselte das Bild. Ich war wieder auf dem Saum des Schutzwalls. Jetzt sah ich viele Flatterwesen geschäftig wie ein Bienenschwarm ein und aus fliegen. Manche spielten aber auch miteinander. Eines tauchte plötzlich direkt vor mir auf und lachte mich an. Es sah aus wie ein Mensch, doch hatte es zwei Flügelpaare, die sich sirrend auf und ab bewegten. Es betrachtete mich mit seitlich geneigtem Kopf, flog nach links, nach rechts, um mich herum und blieb dann wieder vor mir in der Luft stehen – wie ein Kolibri. Dann streckte es die linke Hand in meine Richtung, flog ein wenig nach links und schwenkte seinen Arm von mir zu der Höhle hin. Ich folgte der Handbewegung mit den Augen, sah das Wesen noch einmal an, um mich zu vergewissern, dass es mich meinte. Es nickte mir zu und ich folgte ihm zu Fuß so schnell ich konnte, doch ich kam nicht hinterher. Als das Flatterwesen dies bemerkte, kehrte es zu mir zurück, hielt sich die Hände vors Gesicht und kicherte verlegen. Dann hob es beide Hände und schnippte mit den Fingern. Ich spürte plötzlich einen Widerstand an meinem Rücken, als würde ich mit meinen Schulterblättern Luft fächeln. Das Flatterwesen flog nun rückwärts vor mir, beide Arme leicht ausgestreckt und winkte mich mit den Händen in seine Richtung. Ich flatterte ihm nach, als hätte ich noch nie etwas anderes getan. Ich war so neugierig, was denn dieses freundliche fliegende Menschlein mir alles zeigen würde, dass ich mich überhaupt nicht wunderte, wie leicht es mir fiel, zu fliegen.
Wir flogen allerdings nicht weit, nur durch das Portal vor der Höhle und dann in die Eingangshalle. Hier schwirrten unzählige solcher geflügelten Menschen umher, dass mir fast schwindelig wurde. Ich zögerte. Plötzlich bildeten sie einen Kreis um etwas, das ich nicht sehen konnte. Ein jedes streckte seine Arme zu seinem Nachbarn zur Linken und zur Rechten aus und sie bildeten einen Reigen. Dreimal kreisten sie um ihr Zentrum herum – einmal nach links, einmal rechts herum und dann wieder nach links. Dann ließen sie sich wieder los, hoben die Arme alle zugleich vor sich und schnippten mit den Fingern. Sie fassten sie bei den Händen, streckten sie nach oben und flatterten in die Höhe. Ich konnte in ihre Mitte sehen. Dort war ein Kind das mit einer Katze spielte. Ich blickte kurz hinauf zu den über mir flatternden Wesen. Ihr Reigen senkte sich und umschloss nun das Kind, die Katze und mich.
Eines von ihnen flatterte auf mich zu - ich erkannte das Flatterwesen das mich hier hinein geführt hatte - es verbeugte sich vor mir und sprach: „ Herzlich willkommen in der Kaverne der Elfen, Frau Gitte. Möge das Licht immer mit dir sein.“
Ich war perplex, fand keine Worte und, selbst wenn ich etwas zu sagen gewusst hätte, ich hätte es nicht auszusprechen gewagt, denn ich fürchtete, all dies würde sich in Nichts auflösen. Ich sah in die Runde und hatte das Gefühl, sie würden mich ermuntern, zu tun, was meinem Herzen am nächsten lag. Ich versuchte einen Schritt zur Mitte hin, wo noch immer das Kind mit der Katze spielte. Nichts geschah, alles blieb und ich wagte einen weiteren Schritt, noch einen und noch einen. Das Kind blickte zu mir auf und ich erkannte es aus meinen früheren Träumen. Selbst das Baby aus den ersten zwei Träumen erkannte ich in ihm. Die Katze maunzte und kam zu mir. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass es Fienchen war. Sie strich mir um die Beine und begann zu schnurren. Ich bückte mich um sie zu streicheln, doch sie entwich mir. Verschreckt zog ich meine Hand zurück. Fienchen schnurrte noch immer, stellte sich vor mir auf und setzte ihre Pfoten eine hinter die andere, als wolle sie mich locken, ihr zu folgen. Ich wagte es nicht und blickte unsicher zu dem Flatterwesen, das eben mit mir gesprochen hatte.
„Nur zu, keine Scheu, Frau Gitte. Dies ist dein Augenblick. Es ist deine Vision. Nichts kann passieren, von dem du nicht willst, dass es geschieht.“
Ich raffte alle Zuversicht zusammen, öffnete den Mund, schaute auf die Reaktion dieses Wesens, die mich nun tatsächlich ermutigte, das Wort zu ergreifen und fragte: „Seid ihr wirklich Elfen?“
“Ja. Aber, verzeih mir, ich habe mich nicht vorgestellt.“ Es kreuzte die Füßchen und machte einen Knicks. „Ich bin Mienchen, Neoelfin seit dem letzten Vollmond.“
„Elfen. Neoelfen. Ich verstehe nicht.“.
„Keine Sorge, das wirst du und ich bin bestellt, dir dabei zu helfen. Aber nun eins nach dem anderen. Sicher fragst du dich, weshalb du heute hier bist und was es mit dem Kind und der Katze auf sich hat.“
Ich nickte. „Es ist Fienchen, unsere Katze. Sie war verunglückt.“
„Meinst du wirklich, dass sie das war?“
„Aber sicher, ich selbst habe sie mit meinem Mann beerdigt.“
„Du meinst den Körper, der Fienchen in jenem Leben gegeben war. Was du hier siehst, ist ihr eigentliches Wesen.“
„Ihre Seele?“
„Wenn du magst, kannst du es Seele nennen, aber darauf allein beschränkt es sich keineswegs. Doch, wie gesagt, eins nach dem anderen.“
„Das Kind, ich habe es schon früher gesehen. Was hat es mit ihm auf sich? Ich spüre, dass mich etwas mit ihm verbindet.“
„Das ist wahrlich nicht verwunderlich, doch, dies zu erklären bin ich nicht befugt. Das kannst allein du selbst.“
„Wie sollte ich mir die Herkunft dieses Kindes erklären können, wo ich es doch nur aus meinen Träumen kenne.“
„Visionen, Frau Gitte, Visionen.“
„Wie kann es sein, dass ausgerechnet ich Visionen erlebe?“
„Auch auf diese Frage wirst du die Antwort selbst finden. Ich kann dir lediglich sagen, dass Träume Erlebnisse, Wünsche sowie eine geheimnisvolle Mixtur aus Phantasie, Glücksgefühlen und Ängsten sind. Visionen aber beinhalten Rätsel, die dein Schicksal dir stellt um deiner Seele den einen oder anderen Weg aufzuzeigen.“
„Welche Wege?“
„Vergeude nicht deine Zeit mit Fragen, die keiner Antwort bedürfen. Halte deine Sinne unbedeckt und du wirst sehen.“
Fienchen strich wieder zwischen meinen Beinen hindurch, rieb ihren Kopf an meinen Knöcheln und sah mich aus lodernden Augen an. Dies waren nicht Fienchens Augen! Ich wich zurück. Fienchen setzte sich vor mich hin, ihren Blick unverwandt auf mich gerichtet. Ich überwand meine Unsicherheit und ertrug ihre flammenden Augen, sah tief hinein und entdeckte eine Gestalt darin, die mich seit Wochen, Monaten im Geiste beschäftigte: Das Lichtwesen! Ich traute meinen Augen kaum, doch da, in Fienchens Augen, fand ich meine Zuversicht wieder. Ich war bereit ihr zu folgen. Sie führte mich zu dem Kind. Ich hockte mich zu ihm und beobachtete, wie es mit einem Stöckchen Figuren in den Sand zeichnete, die ineinander übergingen und doch war jede einzelne ein Bildnis für sich allein. Ich versuchte, die verworrenen Linien auseinander zu halten und ihre Gestalt annehmen zu lassen bis alles vor meinen Augen verschwamm. Ich erhob mich wieder und blickte in die Tiefe der Furchen im Sand und entdeckte einen Horizont über dem halb die Sonne verschwand. Diese halbe Sonne bewegte sich. Oder, waren es nur ihre Strahlen, die sich wie Arme empor reckten, als rangen sie um Hilfe? Halt! Ich rieb mir die Augen. War das nicht das Lichtwesen? Oh ja, eindeutig! Jetzt entzifferte ich vor ihm, unter ihm düstere Gestalten, die es zu Boden zu reißen versuchten! Sie waren verhüllt, hielten ein jedes einen Arm über seinen Kopf und in dem anderen ein Schwert, das sie bedrohlich dem Lichtwesen entgegen reckten! Ich konnte ihr Kriegsgeschrei vernehmen, sie jaulten: „Fangt das Licht! Kerkert es ein im dunklen Verlies!“ Doch ich hörte noch etwas anderes. Es klang hell hinter dem Horizont hervor: „Rettet das Licht, ihr Hüter, die ihr aus seiner Kraft genährt werdet! Hütet das Licht!“ Eine Wolke schob sich hinter der halben Sonne herauf, schwoll an und gab drei Schwärme Elfen frei.
Ich hockte mich wieder zu dem Kind und fragte es: „Was ist das?“
Das Kind sah mich an, blickte wieder auf das Bild im Sand und begann, es mit kleinen kreisenden Bewegungen seiner Hände darüber hinweg zu verwischen. „Es heißt: ‚die Erlösung’.
„Halt ein“, rief ich und griff das Kind an einem Arm, „mach es nicht kaputt!“
Es sah mich mit großen runden Augen an und antwortete: „Wenn ich es bestehen lasse, wird es nicht vollendet!“
„Warum? Wenn du es verwischst, kann doch niemand sehen, dass es vollendet ist.“
„Du sagst es. NIEMAND muss es SEHEN, damit es vollendet werden kann!“
„Das verstehe ich nicht. Was willst du mir damit sagen? Niemand ist Keiner, nicht Mensch, kein Elf!“
„Genau, Keiner ist Niemand! Verstehst du?“
Ich wollte schon nicken, doch etwas in mir rief: „Nein.“
Das Kind erhob sich, legte seine Hände an meine Wangen und sprach: „Wenn Keiner Niemand ist, muss Niemand Jemand sein! Doch Niemand weiß, dass ausgerechnet er oder auch sie jener JEMAND ist! Jemand, der die Erlösung zur Vollendung bringt und so die Tragödie dieser Metapher auflöst.“ Das Kind senkte den Kopf. „Damit der letzte Tag nie herauf dämmern möge. Erst, wenn die immer währende Dämmerung dem Licht nichts mehr anhaben kann, werde ich meine Mutter gefunden haben.“
Ich glaubte, zu begreifen, was die Worte des Kindes zu bedeuten hatten. „Ich wünsche von ganzem Herzen, dass dieser Jemand sein Schicksal, seine Berufung zu erkennen vermag.“
„Das wird nicht genügen. Du musst fest daran glauben.“
Und vor meinen Augen wurde das Kind jünger und jünger, war gleich darauf ein Kleinkind; ein Baby, dessen Strampelanzug immer weiter wurde; ein Neugeborenes; Embryo ... bis es nur noch aus stetig schrumpfenden Zellen bestand; einer Zelle; einem „Q“; einem O, Sandkorn, Staub, nichts! Meine Augen schmerzten, meine Schläfen pochten, mein Herz schlug mir gegen die Kehle und ich spürte meine Beine nicht mehr. Als ich fiel riss mich ein Sog rückwärts und die Bilder, die ich gerade erlebt hatte liefen rasend schnell in umgekehrter Reihenfolge ab. Das Kind, das Bild, der Reigen, ich flog rückwärts, Mienchen riss die Hände von ihrem Gesicht, ich lief rückwärts, entfernte mich vom Portal, der Kaverne der Elfen und erwachte mit einem Blick auf das verblassende Lichtwesen, das an meinem Bett gestanden haben musste.
Gitte legte den Stift beiseite, knetete ihre verkrampfte Hand und nahm dann einen Schluck von ihrem Kaffee, der lauwarm ihre Kehle hinab rann. Während sie trank glitt ihr Blick über die rechte Tür des Küchenschranks auf der ein rotgoldener Fleck leuchtete und der Küche einen wärmenden Glanz verlieh. Sie stand auf, trat ans Fenster und sah in die Glut der aufgehenden Sonne bis sie heller wurde, ihre Konturen verlor und plötzlich in ein tiefes Orange wechselte, das sich mehr und mehr zu Violett verfärbte. Erst jetzt entdeckte Gitte die von Nordosten herüber wallende Wolkenformation. ‚Damit der letzte Tag nie herauf dämmern möge. Erst, wenn die immer währende Dämmerung dem Licht nichts mehr anhaben kann, werde ich meine Mutter gefunden haben.’ Gitte sah wieder das Kind vor sich, wie es zu ihr sprach und anschließend eins wurde mit dem Sand in der Kaverne der Elfen. ‚Was hat das zu bedeuten? Warum erlebte ich diese Vision? Bin ich der einzige Mensch, der sie kennt? Der Einzige? Jemand. WER IST JEMAND? Ein Auserwählter? Ein Mensch, der Elfen hilft das Licht zu schützen? Wie absurd! Elfen in dieser Welt! Menschen in jener Welt? Menschen unter den Hütern des Lichts?
‚Ach was, das war nur ein Traum – ein Hirngespinst’, rief eine Stimme in ihr. ‚Pah, Bilder, die reden können, sich bewegen? So etwas gibt es nicht, Gitte! Wach auf!’ Gitte schlug die Hände vors Gesicht, rieb sich die Augen, schüttelte den Kopf. Doch die Metaphern blieben und die Stimme in ihr verlor sich in glucksenden Lauten. Über ihr stampfte etwas über hölzernen Boden, eine Tür quietschte, Schritte auf der Treppe. Gitte hielt sich die Ohren zu. Sie spürte, wie ihre Schultern umfasst wurden, spürte heißen Atem ihren Nacken entlang streichen und wollte sich der Umklammerung entwinden ... dann, ein Kuss netzte ihren Hals.
„Guten Morgen, Liebes.“

Gitte kniete vor dem Rosenbeet auf der Terrasse und zupfte Vogelmiere aus dem Boden. Sie warf das Büschel auf das Häufchen Unkraut neben sich und richtete sich auf. Sie streckte und dehnte sich, griff in den Kragen ihrer Jacke und zog daran.
„Gitte? Komm doch mal rüber.“ Sie strich sich mit dem Handrücken über die Stirn und drehte sich zu Robert um, der im Garten über die Straße hinter ihr damit beschäftigt war, die Figuren in Fienchens Gruft einzufügen. Sie holte tief Luft, stützte sich mit der einen Hand auf dem Boden ab und stand auf. Sie ging zur Bank, zog dabei ihre Jacke aus und ließ sie im Vorübergehen darauf fallen. Sie zögerte kurz. ‚Waren das die metallenen Knöpfe meiner Jacke, die gerade wie Glöckchen geklungen hatten?’ Sie blickte kurz hin und schüttelte den Kopf. ‚Komisch.’
„Was ist, Robert?“
„Ach, ich finde, das passt irgendwie nicht.“
„Was?“
„Na, hier, die Mäuse. Das sieht aus, als würden sie sich lustig machen über die Katze! Findest du nicht auch?“
Gitte kniff die Augen zusammen und musterte erst die tönerne Katze, die vor der Gruft hockte und sich mit einem Pfötchen über das Gesicht zu wischen schien und dann die Mäuse. Eine von ihnen stand aufrecht auf der linken Ecke, die andere erweckte den Eindruck, von der rechten Ecke herunter hangeln zu wollen und eine Etage höher putzten sich zwei weitere Mäuschen – eines von ihnen den Kopf und das andere kratzte sich am Hinterteil.
„Hm. Vielleicht sollten wir sie anders anordnen.“
„Die Katze?“
„Nein, die Mäuse. Hm, ich hätte die Katze anders machen sollen. Meinst du nicht auch?“
„Sie ist genau richtig so“, piepste es über Gitte und Robert.
„Was hast du gesagt?“
„Ich hab nix gesagt. Du warst es, Gitte.“
„Ich? Nein.“
Robert schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
„Wie machen wir das nun?“
„Lasst es so, sie sind keine Feinde und das ist gut für diesen Platz.“
Gitte und Robert blickten zugleich auf die vorderen Enden des geschwungenen Daches über der Gruft, von dem vier Beinchen in türkisfarbenen Strumpfhosen und fliederfarbenen Schuhchen baumelten.
Robert griff nach Gittes Arm, erwischte nur den Hemdsärmel und zog daran. „Was ist das?“ Blass stand er da und seine Augen tasteten mit geweiteten Pupillen die kleinen Beine entlang nach oben, wo breite goldfarbene Gürtel zwei zarte Taillen umschlangen, darüber kurze königsblaue Jäckchen, und purpurrote Hütchen zierliche Gesichtchen halb bedeckten.
Gitte stand bewegungslos, die Augen unverwandt auf das kleine Gesicht des Einen gerichtet. Leise sagte sie: „Mienchen.“ Erst jetzt entdeckte sie die filigranen Flügelchen im Licht der hochstehenden Sonne glitzern.
„Was hast du gesagt? Hast du sowas schon gesehen?“
„Ich glaub, ja“, antwortete Gitte leise. „Elfen.“
„E... Was?“
„Ja, wir sind Elfen“, piepste das geflügelte Wesen, das über seinem Jäckchen noch eine goldene Schärpe trug, „und wir kommen in wichtiger Mission.“
Robert und Gitte blickten sich gegenseitig an, wobei Robert sich unsicher die Haare aus der Stirn strich und die Schultern hob. Gitte musterte wieder die beiden Elfen, sie kaute auf der Unterlippe, während sich zwei tiefe Falten zwischen ihre Brauen gruben. Der Elf mit der goldenen Schärpe wandte sich nun direkt an sie.
„Frau Gitte, wir sind Abgesandte von Heliodoris und haben dir eine Botschaft zu überbringen.“ Er warf Robert einen kurzen Blick zu und fuhr fort: „Mit Verlaub, Herr Robert, hierzu müssen wir deine Frau allein sprechen. Wir bitten dich um Verständnis.“
Robert kratzte sich hinterm Ohr und stammelte: „Ich verstehe überhaupt nicht, was hier vor sich geht. Wie kommt ihr hier her? Welchem Märchen seid ihr entsprungen? Und wer ist Heli..., ähem, Helo...“
„Heliodoris ist das Ewige Licht. Das Volk der Elfen wurde dazu berufen, es zu schützen als es ins Exil fliehen musste.“
„Also doch ein Märchen! Ein Trick! Genau, das muss ein Trick sein“, Robert lief um die Fienchens Gruft herum, blickte um sich und dann wieder auf die zwei Elfen.“
„Robert“, sagte Gitte mit belegter Stimme, „ich glaube, das ist weder ein Trick, noch sind diese Elfen hier einem Märchen entschlüpft. Ich werde mit ihnen ins Haus gehen, um zu hören, welche Botschaft sie für mich haben.“ Sie nickte den Elfen zu und wandte sich zur Gartenpforte.
„Was soll der Quatsch? Gitte? Gitte!“
Gitte blickte Robert über die Schulter an und sagte: „Das ist in Ordnung so. Vertrau mir.“ Sie ging über die schmale Brücke und über die Straße. Die Elfen flogen ihr auf Schulterhöhe hinterdrein. Robert ging zur Gartenbank unter dem Apfelbaum und ließ sich darauf fallen.

Gitte ließ die Elfen in die Küche ein, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich rückwärts dagegen. Die Elfen hatten sich inzwischen auf den Zweigen des Hibiskus niedergelassen und sahen sie zwischen den lachsfarbenen Blüten sitzend an. Gitte schloss die Augen und versuchte sich an ihre letzte Vision zu erinnern. Eigentlich fiel ihr das nicht schwer, doch diese Bilder in ein Verhältnis zu den zwei Elfen zu bringen, die im Hibiskus auf dem Fensterbrett saßen, das wollte ihr nicht so recht gelingen.
„Frau Gitte? Geht es dir gut?“
Gitte öffnete die Augen. Direkt vor ihrem Gesicht flirrte Mienchen und berührte sie an der Wange. Es war keine Berührung im üblichen Sinne; Gitte empfand sie wie eine warme Welle, die bis in die kleinste Faser ihres Körpers strömte. Plötzlich fühle sie sich besser, stark genug, zu hören, was ihr die Elfen zu sagen hatten.
„Also, ich bin bereit für eure Botschaft.“ Gitte ging zum Küchentisch, nahm den Stuhl, der dem Fenster am nächsten stand, rückte ihn vor die Fensterbank und setzte sich aufrecht hin, die Hände auf die Knie aufgestützt. Sie schaute in zwischen die leuchtenden Blüten hindurch zu den Elfen, die wie brave Kinder auf einem Zweig saßen. „Was ist eure Mission, Flo und Mienchen?“ Für einen kurzen Moment kam ihr der Gedanke, wie es wohl aussähe, wie sie hier sitzt und offenbar mit einem Hibiskus spricht. Flo richtete als erster das Wort an sie:
„Du hast die Metaphern des Lichts empfangen?“

...

Wichtig ist, dass du dir der Tragweite deiner Visionen bewusst bist.“
„Ich bin nicht sicher, was ich davon halten soll.“
Nun wandte sich Mienchen an Gitte. „Du entsinnst dich an mich?“
„Ja, sogar erstaunlich gut, Mienchen. Du warst es, die mich in die Kaverne der Elfen geleitet hat.“
„Gut. Und, was erinnerst du noch?“
„Unsere Katze Fienchen und das Kind, es hatte ein Bild in den Sand gezeichnet und wollte es zerstören, noch bevor es vollendet war.“
„Was weißt du noch von dem Bild?“
Gitte kaute auf der Unterlippe. „Es stellte eine Kampfszene dar, glaub ich, oder einen drohenden Angriff von – ich weiß nicht, was das für düstere Gestalten waren.“
„Du meinst sicher die Gnome. Sie bedrohen das Licht. Sie wollen es gefangen nehmen, weil sie das Tageslicht hassen.“
„Was hat Heliodoris mit dem Tageslicht zu tun?“
„Heliodoris ist das Licht, verstehst du, Frau Gitte. Ihm verdanken wir jeden neuen Tag, an dem die Sonne – seine Mutter - uns ihr wärmendes Strahlen schenkt.“
„Er ist das Kind der Sonne?“
„Es ist ein Kind der Sonne. Sie hat viele Kinder, und Heliodoris ist das eine ihrer Kinder, das sie zur Erde entsendet hat. Würde ihm etwas geschehen, und sei es auch nur die Gefangenschaft im Schattenreich der Gnome, würde sich seine Mutter von uns abwenden aus Gram um dieses Kind. Sie würde sich in einem letzten Leuchten aufbäumen und verglühen. Wir Erdenkinder, selbst, wenn wir die darauf folgende Dämmerung erleben würden, wären dem sicheren Untergang geweiht. Ich denke, die Konsequenzen muss ich dir nicht näher erläutern, Frau Gitte.“
„Die Erde ohne Licht? Nicht auszudenken! Was kann man dagegen tun? Kann man überhaupt irgend etwas dagegen machen?“
„Deshalb sind wir hier. Heliodoris hat uns aufgetragen, dich um Hilfe zu ersuchen.“
„Mich? Wieso ich? Ich bin doch niemand besonderes.“
„Erinnere dich, Frau Gitte! Was hat das Kind zu dir gesagt, als du es hindern wolltest, das Bild im Sand zu verwischen?“
„Oh, das war so etwas wie ein kompliziertes Wortspiel, glaub ich.“
„Denke nach“, riefen Flo und Mienchen gemeinsam, „DENKE NACH!“
Gitte zog die Stirn kraus und kaute auf der Unterlippe.
„Also, ich sagte, wenn es das Bild zerstört, wird niemand es sehen. Darauf hat es geantwortet, dass es genau so ist: Niemand muss es sehen, damit es vollendet wird. Jemand ist Niemand und Niemand kann jeder sein, oder so ähnlich.“
„Und, du bist sicher, dass du dieses Bild gesehen hast?“
„Ja, ich denke schon. Es hat sich sogar bewegt.“
„Was, meinst du, hat bewirkt, dass sich das Bild bewegt hat?“
Gitte hob die Schultern und streckte die Handflächen nach vorn. „Keine Ahnung. Hm“, sie wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen, „vielleicht war es eine Projektion, ein Trick, ja, ein Trickfilm eventuell?“
Flo unterbrach sein dezentes Kopfnicken. „Beinahe richtig. Doch nicht so ganz.“
„Na dann weiß ich nicht.“ Gitte zuckte wieder mit den Achseln, doch plötzlich hellten sich ihre Gesichtszüge auf und in ihren Augen funkelte eine Idee. „Magie?“ Sie schlug sich mit den flachen Händen auf die Oberschenkel. „Natürlich, warum hab ich nicht gleich daran gedacht! Es muss Magie sein! Wenn es Elfen gibt, warum dann nicht auch Zauberei?“
Flo hob die Hände, senkte sie ein wenig und hob sie wieder. „Oh, oh – nicht so schnell mit den jungen Pferden. Zauberei ist nicht Magie, Frau Gitte.“
„Wieso? Ich dachte ...“
„Zauberei, musst du wissen, hat etwas mit Illusion zu tun; sie ist sozusagen der geschickte Umgang mit mehr oder weniger ausgefeilten oder gar authentischen Zauberformeln unter Zuhilfenahme unterschiedlichster besprochener Gegenstände. Leider gibt es auf diesem Gebiet sehr viel Stümperei und Missbrauch. Nicht so die Magie. Sie ist eine Gabe, bedarf keines gesprochenen Wortes, dafür jedoch eines starken Charakters, großen Willens und vor allem der stark ausgeprägten Fähigkeit, organische als auch anorganische Materie schwingen zu lassen, zu bewegen, in der Form, Struktur oder Platzierung zu verändern. Man nennt das kurz: ...“
„Aha, davon habe ich schon gehört. Da gibt es einen Mann, der kann Löffel verbiegen.“
Flo und Mienchen schmunzelten und Flo sagte: „Hm, ja, so etwas gibt es durchaus, aber das gehört wieder in ein anderes Fachgebiet und hat mit Magie ansich nichts zu tun. Doch, wir schweifen vom Thema ab. Du verstehst jetzt, wovon wir sprechen, wenn wir Magie sagen?“
„Hm, ich denke, ja.“
„Nun gut, belassen wir es fürs Erste dabei.“ Flo räusperte sich, während Mienchen und auch Gitte ihn mit großen Augen ansahen. „Also, Heliodoris hat heute morgen den Rat der Elfen einberufen und seine Überzeugung offenbart, dass du, Frau Gitte, auserwählt bist, den Zwist um das Licht zu einem guten Ende zu bringen – dem Ende, das Anfang zugleich ist. Nämlich der Beginn der Ära von Licht und Schatten im Gleichgewicht.“
„Halt, halt! Was soll das heiß..“
Flo machte eine freundliche aber strikte Handbewegung, die Gitte auf der Stelle schweigen ließ. „Lass mich bitte ausreden, Frau Gitte, denn damit du verstehst, musst du alles hören! Sicher, dies ist eine außergewöhnliche Aufgabe für einen Menschen, doch, wisse: nur eine Kreatur reinsten Herzens, sehenden Herzens, wird in der Lage sein, sie zu erkennen, anzunehmen und zu bewältigen. Ein jeder von uns Elfen würde sich geehrt fühlen, mit dieser Aufgabe betraut zu werden, doch das bleibt unserem Volk verwehrt, weil wir selbst in diesen Zwist verstrickt sind. Denn, wir sind die Hüter des Lichts und somit befangen. Die Wichtel könnten dem Licht zwar helfen, doch sie halten sich bedeckt, weil sie Eremiten sind – zumindest die meisten von ihnen. Dann wäre da noch unser Waldschrat, doch der ist derzeit unpässlich weil der Wald zu erkranken droht. Ich sage es unverblümt: er neigt momentan dazu, das Licht für den krankenden Wald verantwortlich zu machen. Also ist auch er befangen. Ja, und unsere Fee, Iseldara, befindet sich selbst in arger Bedrängnis, weil sie dazu verdammt ist, in den düsteren, zugigen Gängen Katakomben im Land der Gnome vor sich hin zu dämmern! Ihre eigene Schwester hat sie verflucht, unglaublich“, Flo schüttelte den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht. Mienchen legte ihm den Arm um die Schultern und berührte seine Stirn mit der ihren. Für einen Moment meinte Gitte, einen gelben Funken von Mienchen zu Flo überspringen gesehen zu haben, doch sie war sich dessen nicht sicher.
„Oh Gott, wenn ich euch nur helfen könnte!“
Mienchen wandte sich ihr zu und rief: „Du kannst, Frau Gitte, du kannst es!“
„Wie könnte ich das, da ich doch selbst nicht daran glaube?“
„Nein, nein, nein! Sag das nicht! Du warst doch bei uns, letzte Nacht! Glaubst du denn wirklich, so etwas geschieht einfach so mir nichts dir nichts? Mach dir bewusst, was es heißt, von Heliodoris, dem Kind des Lichts, berufen zu sein, Frau Gitte! Heliodoris hat dir die Tür zur Offenbarung gewiesen, seine Metaphern sind der Weg zur Erkenntnis – zur Weisheit des Orakels in den Wassern tief am Grunde von Vadissee!“
Flo schreckte auf und rief: „Mienchen, zügle deine Zunge! Alles zu seiner Zeit. Wie soll Frau Gitte verstehen, was wir ihr vermitteln wollen, wenn du den Schwanz am Kopf anbindest?“
„Verzeih, ich vergaß, wie das ist, die Einheit von menschlicher Rationalität und mentaler Kraft herzustellen Ich wollte einfach nur helfen wie du mir damals in den ersten Tagen geholfen hast, als ich zu euch kam.“
„Du darfst nicht vergessen, dass Frau Gitte erst seit nicht einmal einer Stunde weiß, dass ihre Visionen tatsächliche Erlebnisse waren.“
Gitte zuckte zusammen. „Aber doch nicht alle! Oder?“
Flo und Mienchen blickten sie mit hoch gezogenen Brauen an.
„Doch?“ Gitte spürte feuchtkalte Blässe in ihrem Gesicht und gleich darauf presste sich ein unerträgliches Hitzegefühl von innen gegen jede schockgekühlte Porenöffnung an ihrem Körper. „Auch die erste? Und die zweite? Als das Lichtwesen, Heliodoris, mir das Baby geben wollte?“
„Natürlich, das war dein ...“
“Mienchen!“
„Mein was? Traum? Kind? Meine Zukunft?“
Flo erhob sich und flog auf Gittes Hand, die sie wissbegierig ausgestreckt hatte. „Frau Gitte, diese deine Fragen werden ihre Antwort finden, wenn die Zeit daran ist. Heute aber gilt es, nur eine Frage zu klären: Wirst du uns beistehen, Heliodoris, seiner Mutter Sonne und damit allen irdischen Wesen zu helfen – auf dass es nach jeder künftigen Nacht ein Morgen geben möge, damit Dämmerung Ruhe- und Kraftfinden gleichermaßen bedeutet. Bist du bereit dazu? Oder, willst du der Dinge harren, die da kommen werden?“
Gitte stützte ihre Ellenbogen auf die Knie und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Gedankenfetzen schossen ihr durch den Sinn. Ein Schattenheer von Gnomen; das händeringende Lichtwesen; ein Baby in ihren Armen, das zu Staub zerfiel – die Arme – ein Sieb; Fienchen, dessen glühende Augen verloschen; Mienchen, deren Flügel zerbröselten wie die Flügel eines Schmetterlings zwischen groben Fingern und Robert mit einer brennenden Kerze in der einen Hand, während er mit der anderen das flackernde Licht zu schützen suchte ... Sie sah auf zu den zwei Elfen, die nun auf dem Rand des Hibiscustopfes standen und flüsterte: „Ich kann nicht“, sie richtete sich auf und sah durchs Fenster hinüber in den Garten, wo Robert noch immer auf der Bank saß und auf das Dach von Fienchens Gruft stierte. „Robert wird nicht verstehen ... er braucht mich und wenn ich jetzt gehe, dann werden ihn die Selbstzweifel zerfressen.“
„Mit der Zeit wird er verstehen“, sagte Flo.
„Hmh“, lachte Gitte bitter, „und was ist mit dem Schmerz? Ihr wisst nicht, wie er leidet, wenn er mich nicht in Sicherheit weiß.“
Flo flirrte aufs Fensterbrett und sah zu Robert hinüber. „Du meinst seine Angst, dich und jede Chance auf seine Familie zu verlieren?“
„Woher ... ähem, ihr wisst davon?“
„Natürlich.“
„Wie lange schon habt ihr uns beobachtet? Denkt ihr wirklich, das ermutigt mich, euch zu folgen?“
„Wir haben dich nicht beobachtet, Frau Gitte. Du selbst hast uns eingelassen in dein Leben, wie auch wir dir gestattet haben, uns zu besuchen, wann immer du an der Pforte standest. Visionen sind keine Träume. Visionen öffnen Türen zwischen deinem Unterbewusstsein und der Welt, wie sie wirklich ist; und Türen verbinden, wenn sie geöffnet sind. Wir wissen von der Krise zwischen dir und Robert, dass er dich mit seiner übersteigerten Fürsorge einengt.“ Flo hatte sich Gitte wieder zugewandt und hob seine Hände. Gitte spürte, wie ihr Gesicht Flos Handbewegung folgte, ohne es beeinflussen zu können und blickte nun trotzig in die leuchtend blauen Augen dieses kleinen geflügelten Menschleins – zumindest schien es ihr so, als hätte sie ein Menschlein vor sich – und sagte: „Bei all dieser Enge fühle ich mich allein. Warum, wenn ihr doch immer in meiner Nähe gewesen seid?“
„Dies, Frau Gitte, ist das Geheimnis deines Schicksals. Wir Elfen dürfen beobachten, vielleicht sogar Ratschläge erteilen – in Rätseln, versteht sich -, aber niemals, nie, nie, nie haben wir die Befugnis, in das Leben der Menschen einzugreifen um ihnen Entscheidungen abzunehmen. Jede Kreatur auf dieser unserer Welt ist verantwortlich für ihre eigene Zukunft, trägt selbst die Verantwortung für ihren Umgang mit den Konsequenzen des Schicksals und für ihre Fähigkeit, dem Leben die Stirn zu bieten.“
Flo senkte seine Hände. Gitte ließ ihre Stirn in ihre Hände fallen und schüttelte den Kopf. „Was soll ich nur machen? Das ist einfach zu viel auf ein Mal!“
Mienchen raufte sich die Haare und rief: „Oh nein, das war mein Fehler! Ich hätte mich nicht hinreißen lassen sollen, so viel zu verraten! Das tut mir so Leid. Ich werde Heliodoris nie wieder unter die Augen treten können, ohne vor Scham in den Boden zu versinken!“
Flo beugte sich zu ihr, griff ihren Arm und zog sich wieder auf die Beine. „Hermine, du hast keine Schuld an Frau Gittes Zweifeln. Ich hätte es wissen müssen, dass die Zeit zu knapp ist für eine solch schwer wiegende Entscheidung. Doch wir mussten erst sicher sein, dass die Schatten der bevorstehenden Tragödie nicht unsere Sinne vernebeln. Frau Gittes Besuch letzte Nacht in unserer Kaverne erst schenkte uns das nötige Minimum an Gewissheit.“ Er blickte zu Gitte, sah, wie ihr Fingernägel sich tief in ihre Stirn eingruben und fügte hinzu: „Komm, Mienchen, lass uns gehen – wir können hier nichts mehr ausrichten. Sie ist noch nicht bereit.“
„Wie können wir jetzt einfach so gehen, Flo? Wir haben nichts ausgerichtet. Nichts! Was sollen wir Heliodoris sagen?“
„Das, was Frau Gitte uns gesagt hat: Es ist zu viel für sie. Sie kann sich ihrer Aufgabe nicht stellen.“
„Was soll nur werden, wenn Niemand bereit ist, das Licht zu retten?“
„Ich weiß es nicht, Mienchen. Noch nie bisher habe ich vor dieser Frage gestanden. Noch nie zuvor hatte ich wie jetzt gerade das Gefühl, alle Kraft würde mich verlassen. Nie empfand ich meine Beine als so bleiern schwer und meine Flügel als nutzlosen Ballast.“
Von draußen her war ein Stapfen zu vernehmen, gefolgt vom Quietschen der Haustür. Gleich darauf wurde die Küchentür ein wenig geöffnet und Robert steckte seinen Kopf durch den Spalt. „Ich will ja nicht stören, aber, wie sieht’s aus, Gitte, ist eure geheime Besprechung bald beendet? Ich habe nämlich gewaltigen Hunger.“
Gitte hob den Kopf und stützte ihr Kinn in die Hände. Ihre Stirn war unter dem Haaransatz von acht tiefen, sich violett verfärbenden Kerben gezeichnet. „Hm?“
Robert sah sich um. „Sind sie wieder fort?“
„Die zwei Elfen? Nein, Flo und Mienchen sind noch hier.“ Gitte wies auf die Fensterbank, gleich neben den Hibiskus-Blumentopf. „Siehst du sie?“
„Dann dauert‘s wohl noch?“
„Nein, Herr Robert, bleiben sie ruhig. Das spielt jetzt sowieso keine Rolle mehr“, rief Flo, so laut er konnte.
„Was? Ruhig spielt eine Rolle im Meer? Ich glaub, ich versteh eure Sprache nicht.“
Flo und Mienchen sahen sich gegenseitig an und rollten mit den Augen, lächelten aber dabei. Gitte stand auf und schob den Stuhl geräuschvoll mit ihren Beinen nach hinten. Sie ging zwei Schritte auf Robert zu und sagte: „Einen Moment noch, Schatz. Bitte.“ Sie strich mit dem Handrücken ihrer rechten Hand kurz über seine Wange.
„Na gut, aber höchstens fünf Minuten“, er versuchte, zu grinsen – doch sein fragender Blick strafte ihn Lügen, „sonst muss ich ... ach, was weiß ich!“ Er schloss die Tür. Seine Schritte waren noch einen Moment den Flur entlang zu hören, dann schlug die Tür zur Töpferwerkstatt schwer ins Schloss.
Gitte blieb bei der Tür stehen und drehte sich halb zu den Elfen um. „Wie kann sich ein Elf so schwer fühlen, dass er seinen Auftrag nicht zu Ende bringen kann? Tja, ich kenne Elfen nur aus Märchen und den Geschichten, die meine Großmutter mir an düsteren Winterabenden erzählt hat. Aber eins weiß ich genau: solange es auch nur ein klitzkleines Fünkchen Hoffnung gab, gaben sie nicht auf! Nie!“ Sie ging zum Fenster, stellte sich direkt davor auf, stemmte ihre Hände in die Taille und sagte mit fester Stimme: „Gut, ich sehe euch zwei hier vor mir auf der Fensterbank und ich habe auch noch im Ohr, was ihr eben zu mir gesagt habt. Das klang alles erstaunlich glaubwürdig, zugegeben. Aber, was mir ganz übel aufstößt ist, dass ihr aufgeben wollt, wo doch so viel davon abhängt – wenn es wahr ist, was ihr mir da eben erzählt habt. Also, ehrlich gesagt, mir kommt das hier so vor, als hätte ich gerade einen dieser sonderbaren Träume! Und, wisst ihr was? Wenn ich mich jetzt gleich in den Arm zwicke, wird dieser Spuk auf der Stelle vorbei sein.“ Gitte tat, wie gesagt und kniff sich herzhaft mit der rechten Hand in den linken Unterarm. „Autsch?“ Ihre Augen erwartungsvoll auf das Fensterbrett mit den Elfen gerichtet, erstarrte sie, als weder das eine, noch das andere oder gar beide verschwanden. „Ihr seid noch da“, stellte sie fest und rieb sich die gerötete Stelle am Arm. „Ähem. Also, ist es wahr? Ihr seid Abgesandte des Lichts? Von Heliodoris? Es stimmt, dass Heliodoris in Gefahr ist, dass Iseldara, die Fee, von den Gnomen verschleppt wurde? Das Bild, das das Kind mir zeigte, als ich letzte Nacht bei euch in der Kaverne war, das habe ich mir nicht eingebildet? Und ... ich soll euch wirklich begleiten? Ich, meint ihr, bin der auserwählte Niemand, der Jemand ist, Euch zu helfen? Jetzt?“
„So ist es, Frau Gitte, und mit Verlaub: die Zeit drängt! Das Schicksal wartet nicht.“
„Einen Augenblick noch“, rief Gitte, lief zur Tür, riss sie auf und keine Sekunde später fiel die Tür zur Töpferei ins Schloss.
Flo stupste Mienchen in die Seite und als sie ihn ansah, nickte er zu den lachsfarbenen Blüten des Hibiskus hin. „Wollen wir?“
„Dürfen wir das?“
„Aber ja, Mienchen, ich denke, wir haben uns das schwer verdient.“
„Oh ja, das will ich meinen“, antwortete Mienchen, flirrte zu einer der Blüten hin und begann, von dem süßen Nektar zu naschen. Flo ließ sich gleich neben ihr in der benachbarten Blüte nieder und tat es ihr gleich.
Als die Tür aufging, streckten die beiden Elfen verdutzt ihre Köpfe aus den Blütenkelchen. Verlegen versuchten sie den orangefarbenen Blütenstaub von ihren Gesichtchen zu wischen.
Robert kam herein gestürmt, sah sich wie irre in der Küche um und schrie: „Wo seid ihr? Zeigt euch!“
„Sie sind dort, im Hibiskus auf dem Fensterbrett.“ Gitte war hinter ihrem Mann in die Küche gekommen. Ihr Gesicht war blass, tiefe Falten furchten sich quer durch ihre Stirn und sie knetete ihre Hände. „Robert, bitte reg dich doch nicht so auf. Glaub mir doch, es ist unglaublich wichtig, dass ich mit den Elfen gehe.“
„Und ich bin wohl nicht wichtig, oder was?“
“Natürlich bist du mir wichtig, Liebling, mehr als du dir vorstellen kannst. Aber ...“
„Nix aber, es liegt doch klar auf der Hand, dass du gerade dabei bist, mich zu verlassen.“
„Nein, nicht doch, Robert. Bitte.“ Sie wandte sich an die Elfen. „Helft mir doch bitte, ich kann es ihm nicht erklären – er versteht mich einfach nicht.“
Flo war inzwischen wieder auf das Fensterbrett geflogen und sagte: „Das ist nicht verwunderlich, Frau Gitte. Er ist gekränkt, ist nicht bereit, diese Entwicklung zu akzeptieren. Du musst ihm helfen, zu verstehen. Nur du allein kannst seinen Schmerz, seine Wut, lindern. Du kannst das und du wirst ihm soviel Zuversicht geben, dass er es aushält, dich gehen zu lassen.“
Robert hatte mit funkelnden Augen den Elfen gemustert, während er zuhörte. Und er musste genau hin hören, um die ungewohnt zarte Stimme verstehen zu können. Deshalb stand er mit vor gestrecktem Oberkörper da, als wäre er im hastenden Lauf eingefroren. Nun schob sich Gitte in sein Blickfeld, umfasste seine Schultern und zog ihn an sich. Er sträubte sich zaghaft, unter der Haut seiner Wangen arbeiteten die Kaumuskeln. Seine Stirn zeichnete sich markanter ab als ohnehin schon, seine Augen lagen wie glimmende Kohlen tief in den Augenhöhlen.
Gitte hatte das Gefühl, sein Anblick zerreiße ihr das Herz. Sie schluckte und begann, mit heiserer Stimme auf ihn ein zu reden. „Robert, ich verlasse dich nicht, glaube mir. Da ist nur eine Aufgabe, von der ich bis vorhin nichts ahnte, die ich annehmen muss. Hier geht es nicht mehr um dich oder mich, nicht um uns beide. Es geht um die alles entscheidende Frage, ob wir je Kinder haben werden, deren Tage sich von den Nächten unterscheiden. Verstehst du mich?“ Sie rüttelte an seinen Schultern und blickte ihm dabei tief in die Augen. Er hob den Kopf, blickte sie kurz an und sah dann an ihr vorbei durch das Fenster hinaus.
„Was hat das alles zu bedeuten, Gitte?“

 An dieser Stelle endet meine Auswahl aus Lichthüter.

SiDs seit 2005

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