Montag, 22. März 2010

Auszug aus *Mondgefährten*


Etwas ratlos nahm Klara unter einem hochgelegenen Felsvorsprung Platz. Suchend schaute sie von dort über das sich vor ihr ausbreitende bewaldete Tal, an dessen ihr gegenüberliegendem Ende – es mochten gut zwei Stunden des Weges sein – sich die Anhöhe ihrer heimatlichen Lichtung erhob.
Jedoch - in regentrunkener Luft - über Jener ein Regenbogen zu fußen schien und grellbläuliche Blitze verwandelten ihr Zuhause dort in fahle, gespenstisch zuckende Flackerbilder.
Dem Mädchen wurde klar, dass ihr Heimweg zu lang dauern – und im nahenden Gewitter ein gefährliches Unterfangen werden könnte. Also legte sie sich unter dem schützenden Felsen nieder, um das ganz sicher bald vorüberziehende Unwetter abzuwarten und hernach erholt ihren Heimweg antreten zu können.

Klara ahnte nicht, wie lang sie schon ruhte, als nahe ihres Felsens der herbeigezogene Regenbogen vor grauendem Himmel sein Haupt hernieder neigte und ihm ein Wolf entstieg. Wohl gesonnen trottete der schmächtige Wolf zu dem Mädchen, berührte es mit seiner kühlen Schnauze und sprach zu ihr „Menschenjunges, was tust du hier so allein – fernab jeder menschlichen Bleibe?“
Ein wenig überrascht, jedoch ohne jede Furcht rieb sich Klara die Augen und setzte sich neben ihn. „Guten Tag, lieber Wolf – ich bin Klara und lebe mit meiner Mutter auf einer Lichtung jenes benachbarten Berges“, und wies durch den aufsteigenden Dunst zum anderen Ende des Tales.
„Du lebst mit Deiner Mutter allein? Wo ist Dein Vater – weilt er auf Reisen?“ erkundigte sich der Wolf nachdenklich, denn für ihn, der ja in einem Rudel lebte, war es unvorstellbar, ohne Vater heranzuwachsen – wer sollte denn an dessen Statt einem Sprössling, wie er selbst es noch vor Kurzem war, die Dinge des Lebens vermitteln?
Mit Traurigkeit in ihrer Stimme antwortete Klara: „Schon vor vielen Monden rief unser König meinen Vater und viele Andere zum Kampfe in ferne Gefilde!“
Der Wolf neigte den Kopf ein wenig zur Seite und spitzte die Ohren zu Klara hin. „Dies bereitet dir Kummer, du armes Mädchen – doch sage mir, warum eigentlich ziehen Könige, die doch wahrlich keine Not leiden müssen, in Kriege“, wollte der junge Wolf wissen.
Klara zuckt betrübt mit den Schultern: „Ach ... ich weiß es nicht. Hm." Sie blickte in die Richtung der heimatlichen Lichtung und fügte hinzu: „Bevor er in den Krieg zog, sagte mein Vater, der König sei nicht müde von rechtschaffen(d)er Arbeit.“ Sie sah dem Wolf in das schwarzgraue Gesicht, aus dem, leuchtend wie Herbstlaub im September, zwei wache Augen ihr entgegen blickten. „Meinst du, lieber Wolf, so könnte es sein? Hat der König Langeweile ohne Krieg?“
Der Wolf kratzte sich hinter dem linken Ohr und sprach:
„Oh je, ich fürchte, ich weiß nicht, wie Langeweile sich anfühlt, aber es hört sich nicht gut an. Doch, was meinst du, Mädchen, lass uns doch gehen, die Antwort zu finden. Ja?“
Klaras Augen leuchteten auf.
„Fein, Wolf, das ist eine gute Idee. Aber, sage mir bitte: Hast du nicht einen Namen, bei dem ich dich rufen darf?“
Der Wolf senkte den Kopf. „Nein, Klara, ich habe noch keinen Namen, denn ich muss mir erst einen verdienen. Ich bin der Letzte meines Wurfes, der keinen Namen hat. Weil meine Geschwister mich seit eh und je kneifen und schubsen, mir das Futter aus dem Maule stehlen und mir verächtliche Blicke zuwerfen, wenn ich an meinem Lieblingsbaum sitze um nachzudenken, zog ich los, einen Namen zu finden.“
„Ach du armer Wolf“, sagte Klara und streichelte ihm die Stirn, wobei der Wolf die Lichter schloss. „Komm doch einfach mit mir und hab ein besseres Leben, als ein Prügelknabe zu bleiben.“
„Das kann ich nicht, Klara. Einer muss der Omega – der Letzte - sein und er ist genau so wichtig, wie das Alphatier, das das Rudel führt bei der Jagd oder auf der Suche nach dem rechten Platz für das Lager. Mein Platz im Rudel ist zwar leidvoll, dennoch, wenn es so sein soll, will ich diese Aufgabe meistern nach besten Kräften. Denn wisse, jeder hat eine wichtige Aufgabe in unserer Gruppe und jede Aufgabe bringt ihre ganz besonderen Freuden und Leiden mit sich. Jedoch brauche ich einen Namen, der mir gerecht wird, um meiner Selbst Willen. Trotzdem, du freundliches Menschenkind, hab Dank für Deine Einladung.“
„Wie du meinst, Wolf. Dann lass uns gehen, Deinen Namen zu finden und vielleicht auch die Antwort auf manche Frage.“
Der Wolf erhob sich, schüttelte seinen Pelz. „Ja, Klara, lass uns gehen.“ Er tat zwei Schritte, hielt inne und wandte sich zu dem Mädchen um, das wiederum beinahe auf ihn geprallt wäre. „Sag, wird Deine Mutter Dich nicht vermissen, Kind?“
Klara blickte zur Sonne, die inzwischen auch die letzten Gewitterwolken hinweg gedrängt hatte, und sich anschickte, lange Schatten in die Täler zu senden. „Meine Mutter ist gestern in die Stadt gezogen und ich erwarte sie nicht vor morgen Abend zurück. Also haben wir einen knappen Tag Zeit für unsere Suche. Dann möchte ich zu Hause sein, unsere Hütte fegen und schön herrichten, bevor meine Mutter müde zurückkehrt.“
Der Wolf nickte, wandte sein Haupt wieder voraus und schnürte voran. Klara sprang hinter ihm her, so schnell sie konnte.
„Warte. Warte bitte, Wolf, ich kann nicht so schnell laufen wie du“, drang Klaras atemloses Rufen durch das Rauschen der Bäume und entferntes Vogelzwitschern hindurch an des Wolfes Ohr. Er lauschte mit einem Ohr nach hinten ohne sich umzusehen und setzte sich um zu warten. Seine Augen suchten den Wald rundherum ab und sicherten den schmalen Weg vor ihnen. Als er das leise Knistern des angedorrten Mooses unter Klaras Füßen nahen hörte, drehte er sich zu ihr um. Da peitschte ein Knall durch den Wald und sogleich noch einer! Der Wolf lag plötzlich am Boden und Klara zwei kleine Schritte von ihm entfernt. Vielfacher Hall grollte heran, entfernte sich wieder und
verlor sich allmählich in den Wipfeln der Bäume. Klaras Herz klopfte, als säße ein Specht mit stumpfem Schnabel in ihrer Brust und wolle sich hinaus picken. Sie spürte in ihren Körper, doch nichts tat ihr weh und sie sprang auf. Ihr Blick fiel auf den Wolf, der mit weit aufgerissenen Augen bäuchlings auf dem Boden lag. „Lieber Wolf, was ist dir? Was war das für ein Krachen?“
Der Wolf hob leicht die Schnauze, ohne Klara anzusehen, scharrte mit der rechten Pfote neben seinem Kopf und knurrte: „Kmm rntr!“
Klara hockte sich zu ihm und fragte: „Wieso?“
„Der Mann mit den todbringenden Augen!“
„Was? Wer?“
„Duck Dich!“
Klara warf sich neben dem Wolf auf den Bauch und lugte zwischen den gelben Grashalmen hindurch dorthin, wo der Wolf irgendetwas nicht aus den Augen ließ. So sehr sie sich bemühte, sie konnte nichts entdecken. „Wonach schaust du?“
Der Wolf drückte sich fester ins Moos, lag scheinbar ruhig da, den Kopf leicht angehoben und nur das Zittern seiner Schnauzhaare verriet die Anspannung seines Körpers.
„Du“, Klara berührte ihn an der Schulter, „ich kann nix erkennen!“ Der Wolf neben ihr antwortete nicht. Sie zupfte ihn am rechten Ohr, das straff nach vorn gerichtet war, doch augenblicklich entwand sich das Ohr Klaras Fingern wieder.
„Pscht, Kind! Ruhig!“ Der Wolf presste sich nun noch dichter an den Boden, seine Augen folgten offensichtlich einer Bewegung weiter vorn links am Waldrand hinter der Wegbiegung. Klara konnte noch immer nichts Verdächtiges entdecken und blickte wieder den Wolf an, in dessen rechtem Auge sie von der Seite nun etwas flackern sah, das sie schaudern ließ: Angst! Jetzt endlich tat sie es ihm gleich, wagte kaum, den Kopf wieder zu heben und harrte der Dinge die da kommen würden.
Nach einer kleinen Ewigkeit bewegte sich der Wolf neben ihr plötzlich und flüsterte ihr zu: „Hab Acht! Auf mein Zeichen springen wir nach links ins Dickicht und du bleibst ganz dicht bei mir! Verstehst du?“
Klara nickte und blickte wieder nach vorn und da sah sie ihn – den Jäger. Sie erschrak, denn es war der Mann, den sie schon einmal im Wald gesehen hatte, als er ein getötetes Wildschwein aufbrach und dessen Eingeweide achtlos neben sich warf. Klara hatte sich damals hinter dichtem Gebüsch verborgen, bis er mit dem ausgeweideten Wildschwein im Schlepp von dannen gezogen war. Jetzt aber hatte sie noch mehr Angst vor dem Jäger, denn sie fürchtete um ihren Begleiter, den Wolf.
„Komm jetzt“, drang das Flüstern des Wolfes an ihr Ohr, doch sie konnte ihren Blick nicht von dem Jäger wenden. Furcht saß ihr in der Kehle.
Der Wolf stupste sie an. „Komm! Jetzt!“ Klara sah aus den Augenwinkeln, wie er aufsprang und auf den linken Waldsaum zu schlich. Sie war nicht mehr imstande zu denken, sprang ebenfalls auf und huschte ihm hinterher auf die wilden Himbeerbüsche zu, die der Wolf soeben in einem Satz übersprungen hatte. Für einen Moment verharrte Klara, blickte hastig um sich auf der Suche nach dem kürzesten Weg hinter das Gebüsch und wandte sich endlich nach links. Doch irgendetwas hielt sie am Jäckchen fest. Klara sah mit aufgerissenen Augen zu dem Jäger hin, der gerade den Weg von links her betrat, höchstens hundert Schritte von der Stelle entfernt, wo sie gerade noch im Moos lagen. Der Mann lief im Zickzack auf den parallel zum Weg verlaufenden Waldrand gegenüber zu, den Blick auf den Boden gerichtet und schien unmittelbar im Grase vor seinen Füßen etwas zu suchen. Klara hörte den gehauchten Ruf „Komm“ des Wolfes, zerrte an ihrem Jäckchen um sich zu befreien. Der Zweig, an dem ein Zipfel ihrer Wolljacke fest gehangen hatte, schnellte einige Male zurück, vor und wieder zurück, wodurch das Gebüsch erzitterte und die Zweige zu rascheln begannen. Der Wolf war hinter dem Buschwerk halb hervor gesprungen, umfasste mit seinem Maul Klaras linken Arm und zog sie hinter das Gebüsch. Klara stolperte hinterdrein und fiel. Der Wolf wandte sich um, seine Augen funkelten an ihr vorbei durch lichte Zweige des Himbeergesträuchs, seine Schnauze lag in Falten und seine Zähne waren halb zu sehen. Er knurrte leise. Klara hatte die Augen weit aufgerissen, starrte den Wolf an und wollte gerade seinem Blick folgen, als eine klare Männerstimme hinter ihr rief: „Kind hab keine Angst!“
Klara erbebte vor Schreck und blickte halb über ihre Schulter.
„Um Gottes Willen, Mädel! Nicht bewegen!“
Der Wolf zeigte nun vollends die Zähne, setzte sich jedoch. Klara wusste, sein Verhalten galt nicht ihr und blickte nach hinten. Oh Gott! Da stand der Jäger wenige Schritte entfernt und hatte seine Jagdflinte auf sie gerichtet. Klara begriff, nur sie selbst konnte verhindern, dass im nächsten Augenblick etwas Schreckliches geschehen würde.
„Es ist gleich vorbei, Kindchen, dann musst du keine Angst mehr haben. Mach die Augen zu. Er kann dir gleich nichts mehr tun!“
Klara durchfuhr ein Ruck. Sie sprang auf, packte mit beiden Händen den Wolf am Nackenfell und riss ihn halb um, als sie zur hinter ihnen liegende Fichtenschonung hastete. Der Wolf überschlug sich fast, stand sogleich wieder auf seinen vier Pfoten und blickte verdutzt um sich. Klara rief: „Komm mit!“ Sie sah, wie er sich in ihre Richtung wandte und stürmte die wenigen Schritte auf die ersten Bäumchen los. Zweige knackten unter schweren Stiefeln hinter ihnen. Klara hörte die gezähnten Zweige der Himbeersträucher an der Kleidung des Verfolgers kratzen und wieder sein bedrohliches Rufen: „Kind, lauf nicht weg! Fürchte dich nicht, ich erschieße ihn!“
Sie hatte das Gefühl, die Flinte des Jägers würde sich beinahe in ihren Rücken bohren. Nur die Bäume konnten sie beide retten. Klara sah sich halb um nach dem Wolf und sah ihn gerade noch rechts von ihr im Dickicht verschwinden. Sie riss die Arme hoch über den Kopf und sprang zwischen die jungen Fichten, deren untere Äste gegen ihren Bauch schlugen. Harziger Duft durchdrang ihre Sinne, betäubte die Panik in ihrem Herzen ein wenig. Klara lief weiter. Zweige peitschten ihre Brust, hieben ihr gegen Hals, Gesicht, doch Klara spürte es kaum. Sie rannte, duckte sich unter Bäumen hindurch und lief um des Lebens Willen.