Montag, 22. März 2010

Auszug aus der Novelle *Nebelpferde*, (meine erste Geschichte überhaupt mit allen Unzulänglichkeiten eines ersten Versuchs)


Was war es aufregend, als er – einst Meldereiter der Kavallerie – erstmals seit einem halben Jahrhundert wieder in den Sattel stieg!
Ich longierte seinen Braunen mit ihm auf dem Rücken achtsam durch die Gangarten. Derweil mein Vater sich mit erstaunlichem Geschick in dessen Takt einfühlte.
Schon nach wenigen Tagen ritten wir aus – manchen der mir altbekannten Wege  meiner Kindertage entlang.
Den Wind in unseren glückstrahlenden Gesichtern, flogen wir im Galopp über Wiesen und Bäche.
Auf einer Lichtung, die Pferde zur Rast ihrer Sättel entledigt, schauten wir - gelehnt an das Lederzeug im Grase – Wolkenbilder. Oder sahen einfach nur unseren beiden Pferden zu, wie sie sich an leckeren Kräutern labten. An denen lichtgeflutet zahllose Tautropfen prismengleich flimmerten.
Kindheitsträume gingen mir durch den Sinn.
Die Erkenntnis, dass ein Bedeutsamer nun real wurde, jubelte in mir. 
Noch viele solcher Ausritte waren uns vergönnt, doch jener Tag wird mir für immer in wundervoller Erinnerung bleiben.
Bisweilen kam es vor, dass Vater auch allein vom Hof ritt. Nach etlichen jener alleinigen Ausflüge erwähnte er bei abendlichem Gespräch einen „Landmann“ - wie er ihn nannte. Er war ihm ein ganzes Stück entfernt unseres Hofes bei dessen Ländereien begegnet. Wie Vater erzählte, bewirtschaftete dieser Landmann ganz allein ein Gut von beachtlicher Größe und züchtete seltene Pferde.
Fortan trafen sich die Männer häufiger. Sehr bald konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Vater auf seine alten Tage einen Freund gewonnen hatte.

Einige Zeit ging ins Land und mit ihr der beginnende Herbst in Begleitung seiner stürmenden Gesandten.
In einer solch stürmischen und dennoch von Mondlicht gezeichneten Nacht ließen die Hunde ihr Heulen ohne Unterlass gen Himmel erschallen. Ich lief hinaus, um sie ins Haus zu holen - wohlwissend, sie würden dort draußen sich selbst wie auch mir keine Ruhe gönnen. Mit Anastassia und Cheenook  im Gefolge, mich dem Hause wieder zuwendend, sah ich meinen Vater - im Licht des Mondes am Fenster seiner Kammer stehend. Ich winkte ihm zu. Jedoch sein Blick ruhte weit hinter der Koppel, wo Baumwipfel des nahen Waldes den Himmel zu berühren schienen. Er nahm mich nicht wahr. Achselzuckend ging ich ins Haus und gebot den Hunden Platz beim Schreibtisch in meinem Zimmer.

Erst am darauf folgenden Abend fiel mir meine Beobachtung wieder ein und ich brachte unser Gespräch darauf.
„Nebelpferde.“ antwortete Vater mit etwas verklärter Miene. Meine wohl sehr erstaunt in die Stirn ragenden Brauen mussten ihn sogleich zu näherer Erläuterung veranlasst haben. Denn nun fuhr er fort: „In lebhaften Herbstnächten, wenn des Mondes Licht wider den aufsteigenden Dunst feuchter
Waldungen hell den Horizont erreicht, wenn verstreute Wolkenfelder ihn sanft tändelnd umwerben und wenn das Geschick Deiner Sinne Dich geleitet, Deinen Blick von irdischer Wahrnehmung zu lösen, dann ist die Stunde der Nebelpferde. Die Zeit, da sie tänzerisch leicht den Horizont entlang galoppieren – ihnen voran ein Jüngling auf feurigem Ross.“
Begeistert, wie in den Frühen meiner Lebensjahre, hatte ich Vaters Worten gelauscht. „Nebelpferde ... Jüngling auf feurigem Ross“ sinnierte ich hörbar vor mich hin „all das mutet legendenhaft an.“
 „Ja, den Nebelpferden liegt eine Überlieferung zugrunde.“ bestätigte er, griff zu seiner Pfeife und stopfte sie bedächtig „Erst kürzlich las ich sie mit eigenen Augen.“.
 Zu gern wollte ich mehr über die Nebelpferde erfahren. „Papi, wenn du diese Geschichte kennst, bitte erzähl’ sie mir.“
Er sah mich kopfwiegend an „Die Legende der Nebelpferde und des Jungen zu erzählen, wird etwas Zeit brauchen.“
„Bitte. Ich würde sie so gern aus deinem Munde, mit deinen Worten hören.“  erwiderte ich schmeichelhaft.
 „Ach, was soll’s, heute ist ein guter Abend dafür.“ gab Vater nach und griff die Zündhölzer. Er nahm Eines heraus, strich es an und spendete zunächst der halbniedergebrannten Altarkerze auf dem Tisch von der Flamme.
Paffend steckte er seine Pfeife an und ließ wie gewohnt weißliche Kringel aufsteigen. Mit rascher Handbewegung löschte er das Hölzchen, bevor in der gebannten Stille, die den Raum erfüllte, es mit leisem Ton im Ascher landete.
Sein Blick wanderte bedächtig  zum Fenster. In letztem Licht der Dämmerung zogen silbern schimmernde Wolken vorüber.
„Nun denn!“ begann Vater.

DIE NEBELPFERDE
Hinter dem Horizont, der waldverliebt unsere Koppel grenzt, lebte einst ein Graf der zwei Dutzend Pferde besaß. Was nicht sonderlich ungewöhnlich war, jener Graf jedoch pflegte, die Herde frei auf seinen Ländereien leben zu lassen. Dies geschah sehr zum Leidwesen der auf seinem Allod in ohnehin entbehrungsreicher Fron stehenden Bauern. Doch, was hätten die Abhängigen anderes tun können, als dies im Schweiße Ihres Angesichts zu erdulden? Mussten sie nicht fürchten, in Ungnade zu fallen und ihrem Herrn noch mehr Tribut zollen zu müssen?!
Als er blutjung war, freilich, schien dieser Adlige noch das Herz auf dem rechten Fleck zu haben. War erfüllt von Träumen und Herzenswärme. Warum nur hatte er sich zu einem Tyrannen gewandelt? Niemand wusste auch nur einen Grund hierfür zu nennen.
Allerdings, seinem einzigen Kinde - ein liebreizendes und dennoch verwegenes Mädchen - schenkte er die wenige Herzenswärme, die er noch im hageren Leibe trug. So munkelte man.
Ja - und seine Leidenschaft galt den vor Lebenskraft nur so strotzenden Pferden die er züchtete. So zogen also die Pferde jahrein jahraus unbehelligt über das Land. Die Natur nahm ihren Lauf.
Manchmal kam es vor, dass des Winters unerbittliche Fröste schwächere Tiere merzten. Das mutet grausam an. Nicht wahr? Doch der Graf machte dies dem Ziel seiner Pferdezucht zunutze.
Alljährlichen Frühjahrs dann ließ er an einem eigens hierfür stattfindenden Festtag die Herde in einem Pferch zusammentreiben. Von den Fohlen des Vorjahres waren nur die Widerstandsfähigsten zu starken, gegen Krankheit gefeiten Jährlingshengsten und –stuten herangewachsen. Diese Tiere galt es einzufangen, um sie den vornehmlich hierzu angereisten feudalen Herrschaften bei einer Auktion gegen klingende Münze feilzubieten.

Eines schönen Sommertages trug es sich zu, dass ein armer Bauernjunge namens Klemens im Wald heimlich Holz für die Feuerstatt der kargen elterlichen Hütte sammelte. Wir er so hier und da kleine Äste auflesend lief, durchdrang ein merkwürdiger Laut die zuvor friedlich scheinenden Geräusche des Waldes. Klemens verharrte, lauschte ... . Da!! Da war es wieder! Wie schwerer Atem eines gehetzten
Tieres vernahm er es aus einem Dickicht unweit von ihm. Arglos, ein Rotwild vermutend, schlich er wider den Wind dem Laut nach.
Jedoch, was er zwischen dichtem Gezweig hindurch erspähte, konnte weder Hirsch, noch Reh sein! Er kannte kein Wildtier solchen Haarkleides, wie es dort hell durch das Gesträuch schimmerte.
 Vorsichtig huschte Klemens einen Baum näher. Sogleich noch Einen. Und traute seinen Augen kaum. Im Schutze des Gestrüpps lag ein Pferd, wie er es noch nie zuvor gesehen! Sein Fell zeigte die Färbung reifen Korns im Spätsommer. Mähne und Schweif dagegen wirkten wie von Ruß geschwärzt!
Leise ließ der Knabe seinen Korb mit Holz vom Rücken gleiten und ging ruhig zu dem offensichtlich einsamen Tier. Es war ein Fohlen, wie er erst jetzt bemerkte. Ein recht Großes zwar, dennoch sollte es nicht so allein hier im Wald liegen! Es machte nicht einmal Anstalten, zu fliehen!
Leise sprach Klemens auf das Fohlen ein, während er sich zu ihm hockte. Voller Mitleid streichelte er seine Stirn und wurde gewahr, dass er dieser bedauernswerten Kreatur helfen musste.
 Er sann einen Moment nach. Dann erhob sich wieder, um Futter zu suchen.
Kaum war Klemens einige Schritte gelaufen, entdeckte er zu seinem größten Entsetzen die Mutter des Fohlens. Nein, eher das, was von ihr geblieben war! Ein gar grausiger Anblick bot sich ihm! An den Spuren die sie umgaben erkannte er bestürzt, dass ein Bär sie gerissen haben musste. Kalter Schauder schüttelte den Knaben. Rundherum um die übel zugerichtete Stute fand er Zeichen ihres
erbitterten Kampfes auf Leben und Tod! Spuren ihrer Hufe sowie große als auch kleinere Abdrücke von Bärenpranken. Vermutlich hatte eine ihre Jungen führende Bärin dem Fohlen nachgestellt, welches dessen Mutter jedoch tapfer vereitelte und bitter mit ihrem eigenen Leben bezahlte! Nun wurde dem Jungen klar, weshalb das Fohlen so allein in der Nähe lag. Vorsichtig schaute er sich nach allen Seiten um. Vögel zwitscherten ausgelassen. Ein Bach plätscherte unverdrossen. Darüberhinaus aber war und blieb es ruhig – selbst der Eichelhäher schwieg mittlerweile.
Klemens atmete tief durch und verließ rasch den schrecklichen Ort.
Hastig sammelte er einige Waldkräuter. Sodann, wieder beim Fohlen angekommen, bot er die Büschel dem jungen Tier an. Doch es nahm sie nicht. Voller Sorge überlegte er, was er nur tun könne, das Fohlen zum Fressen zu bewegen. Nichts fiel im ein. Plötzlich kam ihm eine Idee. Unsicher wanderte sein Blick in Richtung der toten Mutterstute. Nein, das konnte er nicht tun! Wieder sah er das Fohlen an. Wie es dalag, schien es jeden Funken Lebenswillen verloren zu haben! Klemens fasste sich ein Herz und erhob sich.
Beklommen ging er noch einmal zu dem grausigen Schauplatz. Seinem eigenen Vorhaben widerstrebend zögerte er. Es grauste ihn. Er fühlte sich elend. Mit flehenden Augen sah er zurück, doch das Fohlen hob nicht einmal den Kopf. Das arme Tier dauerte ihn zutiefst. Mühsam überwand Klemens seine Scheu und fand sich plötzlich bei der Stute wieder.
Zaghaft machte sich daran, ihr Euter zu ertasten. Glücklicherweise fand er es schnell. Die Bären hatten es unversehrt gelassen.
Beherzt strich er einige Tropfen der Stutenmilch heraus und netzte damit die Kräuter in seiner Hand. Flugs lief er wieder zu dem verwaisten Füllen und hielt ihm das nunmehr weißtropfende Büschel hoffnungsvoll vor die Nüstern. Tatsächlich sog das arme Tier den nunmehr vertrauteren Geruch ein. Es richtete sich ein wenig auf. Sorgsam schob der Junge ihm das kostbare Futter ins Maul und gab Acht, dass sie auch verzehrt wurden. Noch mehr Futter sammelte er. Das Fohlen nahm auch diese an und vermisste inzwischen auch die Milch nicht.
Als Klemens wieder einmal sichernd umher sah, fiel sein Blick auf die nicht einmal halbgefüllte Holzkiepe. Die Schatten der Bäume waren kurz geworden. Schwärme von Mücken flirrten in flimmernder Luft.
Mutter erwartete ganz sicher schon ungeduldig seine Rückkehr! So strich er dem Fohlen noch einmal sanft über das gelbliche Fell und machte sich alsdann schweren Herzens auf den Heimweg.

Zappelig hatte Klemens seinen Hirsebrei gelöffelt.
Jetzt  stahl er sich wieder gen Wald davon. Sein Weg führte ihn an einem nahe beim Forst gelegenen Speicher vorbei. Kurzentschlossen ging er hinein um gleich darauf mit pochendem Herzen und einem Arm voller duftendem Heu zu seinem Schützling zu eilen. Dieser lag noch immer an gleicher Stelle, wo er ihn verlassen hatte. Liebevoll nötigte Klemens das Fohlen, eine Handvoll des leckeren Heus
aufzunehmen. Ganz langsam begann es die blassgrünen Halme zu zermalmen.
Ihm musste dürsten, besann sich der Junge. Hatte er nicht unweit der Stute das Plätschern eines Baches vernommen? Forschend lauschte Klemens in die Umgegend. Dort! Er sprang auf – derart unvermittelt, dass das Fohlen sich erschrak und plötzlich auf allen vier Beinen neben ihm stand!
Mit Bedacht mäßigte der Junge seine Freude darüber und griff mit einer Hand in die dunkle, noch recht kurze Mähne. Währenddessen berührten die weichen Nüstern seines Schützlings die Andere. Scheu schnuppernd stupste das Füllen sein warm-geschmeidiges Maul immer wieder hinein. Bis es mit seinen beweglichen Lippen an einem der Finger zupfte. Klemens verharrte gerührt ein Augenblick. Schließlich nutzte er die Gelegenheit, auf diese Weise mit dem erpichten Jungtier zum Bachufer zu streben. Es gelang ihm und sie verließen den bedrückenden Ort.

Mit jeder Handvoll erfrischendem Nass, die das Fohlen gierig schlürfte,  verwässerte auch der allerletzte Hauch von dem zweifelsohne betörenden Duft der Stutenmilch.
Klemens war überglücklich. Er hatte den Bann gebrochen. Mit seiner Hilfe hatte das verwaiste Füllen neuen Lebenswillen gewonnen.
Kaum war sein Durst gestillt, kaute es auch schon das erste selbstgerupfte Grün. Futtersuchend folgte es dem Bachlauf stromaufwärts. Gleichsam allmählich lichtete sich der Wald.
Plötzlich hielt es abrupt inne und spitzte seine Ohren zur angrenzenden Wiese hin. Lustig sah es aus, wie zwischen seinen Lippen die Grasstengel scheinbar vergessen hervor lugten, während es beharrlich äugte - wonach auch immer.
Doch nun vernahm Klemens ebenfalls Etwas - Hufschlag in  der Ferne! Der Graf?! Schon spannte sich sein Körper - bereit zur Flucht! Indes das Fohlen, trabte vollends aus dem Wald hinaus und ließ seinen Retter hinter sich. Erst jetzt schwoll der Hufschlag zu vielfachem Getrappel an. Und über dem Saum des gegenüberliegenden seichten Hügels nickten schon im Wechseltakt einige Köpfe heran galoppierender Pferde.
Erleichtert sauste der Junge dem Fohlen nach. Es sah zurück. Ja, schenkte seinem Wohltäter in diesem Moment seinen ersten freimütigen Blick. Und den Letzten dieses Tages.
Nach einem kecken Sprung auf der Stelle, stürmte es seiner Herde entgegen. Klemens blieb allein zurück. Er fühlte sich seltsam – in seinem glückseligen Herzen glomm Wehmut.

 Fortan lief Klemens sooft er nur konnte zu dieser Stelle zurück. Wie durch eine Wunder, fand sich stets zu seiner größten Freude über kurz oder lang auch sein vierbeiniger Freund bei ihm ein.
Die Zeit flog dahin. Bald wurden die Tage kürzer. Lang ließen die Fröste nicht mehr auf sich warten.
Klemens sorgte unverdrossen dafür, dass der Stapel Holz zu Hause neben dem Herd nie weniger wurde. Seine Mutter ahnte ja nicht, was den Jungen tatsächlich bei Wind und Wetter nach draußen zog.


Auch der strengste Winter geht einmal zur Neige! Auch das dickste Eis schmilzt - auch der dickste Winterpelz flockt aus im wärmenden Frühjahr. Wilder denn je sahen sie aus, die Pferde. Wie Vlies hing die dicke Unterwolle einem Jeden von ihnen im wechselnden Haarkleid.
Das Fohlen war zu einem kräftigen Jährling herangewachsen. Bald glänzte sein gelbliches Fell weithin sichtbar.

Unterdessen war den Augen des Grafen der so außergewöhnlich gefärbte Junghengst nicht entgangen! Ein Falbe! Frohlockte er für sich. Und er erwog, ihn im darauffolgenden Jahr einreiten - und zu seinen Reitpferden in den Stall bringen zu lassen. Andererseits, da war er sicher, würde dieses außergewöhnliche Pferd bei einem Verkauf ein stattliches Sümmchen einbringen!

Der Tag der Pferdeauktion rückte heran. Klemens, in Furcht vor dem drohenden Verlust seines Freundes, hatte manch schlaflose Nacht verbracht. Verzweifelt, seine bange Erregtheit zu verbergen suchend, schlich Klemens sich zum Pferch und lugte durch das Gatter hinüber zum Falben, der dicht aneinandergedrängt mit den anderen schutzsuchenden Pferden in der äußersten Ecke stand und am ganzen Leibe bebte.
Dem geliebten Pferd blitzte - völlig außer sich - das Weiß in seinen Augen.

SiDs, Frühjahr 2003