Freitag, 26. März 2010

Mein heutiger Haiku

Hof auf dem Lande
Ort der mein ZUHAUSE war
Ich habe Heimweh

Donnerstag, 25. März 2010

Mein heutiger Haiku

Vertraute Pfade
Vermisste Horizonte
hab ich heut geschaut

Mittwoch, 24. März 2010

Mein heutiger Haiku

Frühlings Gesichter
noch zeigen sie kaum Farbe
Lebensfreude sprießt

Dienstag, 23. März 2010

Im Wald

Der Pfad zu meinen Füßen
Windet sich moosgesäumt
Durch den Wald. Gedanken fließen
Fort. Meine Seele träumt.

Düfte von Harz und Pfifferlingen
Berauschen mein Gemüt.
Wipfel und Vögel singen
Ein jeder sein eignes Lied.

Mein Blick folgt entrückt
Dem Spiel der Natur - welch Glück.
Blinkt dort etwas? Der Friede trügt?

Vielstimmig schreit der Wald wider
Die Schläge der Axt - wieder und wieder!
Vergebens. Ein Krachen - der Baum fällt darnieder.

SiDs am 23.03.2010

Mein heutiger Haiku

Weißes Licht Hoffnung
lässt schwarze Schatten leuchten
Zuversicht bricht durch

Mein Atem ist der Wind

Nun geht zur Neige der Muße Krug -
zerronnen die Tage und Stunden -
wie Sand den in den Fingern ich trug
und ihn dann nicht mehr gefunden!

Ich war Kind - bin es noch
und wieder nicht, sagen die Jahre.
Die Zeit scheint weit, unendlich, doch
eilen die Wolken mit denen ich fahre!

Ja, Wolken sind meine Wege -
mein Atem ist der Wind -
das Lager worauf ich mich lege,
allein meine Träume sind.

Ich wünsche zu kennen
den Sinn meiner Welt -
kann selbst nicht benennen
was mein Leben verborgen hält!

SiDs am 25.1.1988

Montag, 22. März 2010

Ein Haiku

Früh lag es im Gras,
ganz still und kaum zu sehen.
Sein Fell war noch feucht.

Schorsch, der Alpharüde erzählt

... von „Georgie“ - dem Stadthund zu Schorsch – dem Alpharüden des Dreigestirns
"Plaudereien mit meinem Sohn Magnus"


... da stand ich nun arg bedrüppelt, als gerade mal zehn Monde alter Rüde und nur durch einen Zaun von den beiden interessanten, aber leider despotisch tobenden Hündinnen getrennt! Ich gab mir verzweifelt alle erdenkliche Mühe, ihrem Empfangens-Groll so wenig Beachtung als möglich zu schenken! Drei aufreibende Wochen in denen mir sogar die Pein eines Kettenhundes nicht erspart blieb lagen hinter mir und ich war müde, sehnte mich nach der Geborgenheit der heimatlichen Couch  – weit, sehr weit fort von hier.
Die um mich stehenden Zweibeiner – das Alphapaar, das mich vor Wochen von Zuhause wegholte, deren Behausung aber ebenfalls von zwei meiner Artgenossen vehement gegen mich verteidigt wurde  und eine fremde Zweibeinerin - zeigten gefällige Mienen und bläfften sich viel-lautig an, während sie mich mit drei eifrigen Augenpaaren immer wieder beäugten. Irgendwann im Durcheinander ihrer Stimmen fiel auch mein Name – Georgie - woraufhin die Fremde sich an meiner Seite auf ihren Hinterpfoten niederließ und meinen Namen wiederholend, mir zu schmeicheln suchte. Jedesmal, vom Aufbruch zu meiner unfreiwilligen Reise an, war es ähnlich und würde wohl vermutlich auch so weitergehen – immer, wenn ich mich gerade einzugewöhnen begann, kamen die eigentlich recht gutmütigen Alphas um mich wieder in ein fremdes Revier zu bringen. Das machte mir genausoviel Angst, wie die immer noch weibisch-dominant keifernde Scheckenhündin, die mir ja nichtmal bis zur Schulter reichte, während die Andere, eine schwarzweiße Schönheit, mich inzwischen ungeduldig über das Tor hinweg anjaulte!
Nichts half, meine bisherigen Wegbegleiter übergaben den mich an seinen jeweiligen Halter zwingenden Strang dieser Zweibeinerin und verließen mich!
Mit dem Eintritt in das Reich der kleinen Furie und ihrer Gefährtin erfüllten sich all meine Befürchtungen – ich war ein Häufchen Unglück - wenigstens wurde ich von der hinderlichen Leine erlöst und konnte mich somit etwas freier bewegen! Um die lärmenden Hündinnen dieses Reviers wenigstens etwas zu beschwichtigen, warf ich mich flach auf den Boden und wagte vorerst nicht, mich auch nur zu mucksen, trotzdem die Größere der Beiden anfing, mich kokettierend zu locken. Ich fühlte mich erniedrigt und die Tatsache, den Launen einer Horde zwei- und vierbeiniger Weiber ausgesetzt zu sein, vervielfachte meine Qual. Die Herrin des Hofes herrschte die Hitzköpfigen an,
was mir eine Verschnaufpause gewährte, ging den Hof hinauf, verschwand hinter einem Gebäude und kam mit bekümmerter Miene zurück.
Alsbald erschien aus der gleichen Richtung kommend ihr Gefährte, wie ich sofort bemerkte – endlich Jemand, der mich verstehen mußte... doch sein Blick glitt mürrisch über mich hinweg, als er vorüberging!
Als die Sonne schon tief stand ertönte aus der Behausung der Zweibeiner ein Pfiff, worauf ich plötzlich allein war – es roch nach Futter. Die Zweibeinerin erschien und gebot mir, ihr zu folgen... ich zauderte und so griff sie die Kette an meinem Hals und zog mich mit ihr – Stufen hinauf zu einer Schüssel voller Futter. Oh nein, ich mochte nicht! Ich wollte nicht hier sein!
Weiter oben schmatzten die Anderen und würden sich anschließend auf mich stürzen, um ihr Recht auf dieses Futter zu erzwingen! Ich floh hinab, wurde jedoch sogleich wieder zum Futter gebracht - jetzt war auch die Gefahr eines Angriffes durch meine Artgenossinnen gebannt – sie waren auf einmal verschwunden! Trotzdem war mir noch immer nicht danach, zu fressen, was zur Folge hatte, daß bald beide Zweibeiner bei mir saßen. Der zuvor Mürrische gab nun versöhnliche Laute von sich - ein Hoffnungsfunke. Ermutigend schob er mir einige Futterbrocken in’s Maul und veranlaßte mich erneut, zur eigenständigen Futteraufnahme und endlich wagte ich es vorsichtig. Während ich die wohlschmeckenden, aber ungewohnt harten Brocken einen nach dem anderen knabberte, blieb er neben mir stehen und ermunterte mich.
Ich spürte, wie weiter oben die Hündinnen eifersüchtig lauerten, trotzdem konnten sie mir nicht zu Leibe rücken. Später wurde ich hinauf geführt, wir betraten einen Raum, in dem ich durch meine Widersacherinnen noch argwöhnischer als im Hof empfangen wurde, was allerdings auf der Stelle durch die zweibeinigen Alphas unterbunden wurde, indem sie Jeder ihr Lager und Ruhe geboten. Mein Beschützer nahm eine höhergelegene Liegestatt ein und wies mir einen Platz direkt neben sich. Erleichtert folgte ich seinem Wunsch, schmiegte mich dankbar an seine Seite. Weiche Laute von sich gebend trat bald darauf sein Weibchen zu uns heran, berührte versöhnlich seinen Kopf mit dem Ihren, nachdem auch er in ähnlicher Weise antwortete.

Die folgenden Tage waren für mich gekennzeichnet von gegenseitigem Kennen- und Vertrauenlernen, zaghaftem Spiel mit Alisha – wie die ausgeglichenere Schönheit gerufen wurde - und Jacky’s – der Scheckigen - zergendem Treiben. Zumeist jedoch suchte ich die wohltuende
Nähe des Hofherrn, er war ein Alpha, von dem ein junger Rüde wie ich Vieles lernen konnte und die Sprache seines Körpers zeigte mir mehr und mehr, daß er mir wohlgesonnen war.
Sehr bald begriff ich, wie meine neuen zweibeinigen Alphas sich nannten, „Uli“, der Hofherr und seine Gefährtin „Sylvie“. Ich lernte sogar mehr und mehr, die vielfältigen Laute dieser Beiden zu unterscheiden. So riefen sie die auf dem Hof tonangebende Scheckenhündin „Jacky“, aber die mir recht wohlgesonnene Schönheit „Alisha“.

Zuvor lebte ich ganz gut von Welpenbeinen an bei Lisa und deren Katze Minka, meiner Freundin am Rande der großen Stadt, wo salzige Brisen von naher See kündeten.
Ich war der kleinste Sohn meiner Mutter – einer anmutigen Dogge - und eines prächtigen Rüden, der die Verwegenheit eines Kangals mit dem Edelmut eines Großen Schweizer Sennenhundes in sich vereinte. Mutter traf unseren Vater einst häufig bei Spaziergängen entlang der Alster. Sie bewunderte seine Willensstärke, die ihm die Erhabenheit verlieh, seinem Herrn ein loyaler, jedoch keinesfalls bedingungslos ergebener Gefährte zu sein – und Mutter entbrannte bald in heimlicher Liebe zu diesem Rüden. So manche Nacht lauschte sie unweit ihres Heimes, seinem sonoren Heulen, dem sie nur zu gern gefolgt wäre – doch ihr gestrenger Herr gebot ihr stets, zu schweigen, noch erschien es ihr möglich, die Umfriedung ihres heimatlichen Vorstadtgartens zu überwinden.
Irgendwann, als Mutters Sehnsucht schier unerträglich wurde, vernahm sie nächtens wieder sein durchdringendes Rufen, das ihr schmachtendes Herz erbeben ließ. Diesmal jedoch änderte es seine Richtung und... !! Aufgeregt stand sie nunmehr am Zaun und hielt gebannt Ausschau, hob immer wieder ihre Nase in den Wind, welcher mit betörendem Duft das Nahen ihres Auserkorenen verkündete. Es dauerte auch nicht lang und er landete mit einem kühnen Satz neben ihr. Obgleich ihre unbändige Freude es ihnen erschwerte, so verhielten sie sich dennoch leise, so lautlos es nur irgend möglich war und so störte nichts und Niemand die Inbrunst ihres heißen Tête â Tête in lauer Frühjahrsnacht.
So erzählte es Mutter meinen Wurfgeschwistern und mir, als wir alle noch in glücklichen Zeiten vereint, bei ihr weilen durften. Jedoch gar manches Mal beklagte sie wehmütig, daß ihr zweibeiniger Gebieter – wahrlich ein Tyrann – voller Unverstand seiner Mißbilligung Ausdruck verlieh, als er herausfand, daß sie „Bastarde“, wie er uns später verächtlich nannte, im Leibe trug! Oft lag sie deshalb mit tiefliegend-traurigen Augen im Zwinger, den sie seither nicht mehr von außen sehen durfte. Hin und wieder schafften wir Welpen es, sie mit unserem ausgelassenenen Spiel - oder hernach ermüdet ihre Nähe suchend – sie aufzumuntern.
Allerdings sollte unser zartes Glück nicht von langer Dauer sein.
Ich erinnere mich noch sehr genau - kaum hatten wir begonnen, uns für den gefüllten Futternapf unserer Mutter zu interessieren – als es unserer Mutter fast das Herz brach, während meine Geschwister Eins nach dem Anderen von irgendwelchen Zweibeinern abgeholt wurden!
Nur mich, den Kleinsten und bald darauf Einzigen ihr verbliebenen Welpen, wollte scheinbar und zu ihrem letzten Trost glücklicherweise, Niemand haben! Noch immer zerreißt es mir fast das Herz, wenn ich an die ihrem todtraurigen Herzen letztlich innewohnende Mutterliebe denke, mit der sie mich wie ihren Augapfel hütete und umsorgte.

SiDs 2003

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Auszug aus *Mondgefährten*


Etwas ratlos nahm Klara unter einem hochgelegenen Felsvorsprung Platz. Suchend schaute sie von dort über das sich vor ihr ausbreitende bewaldete Tal, an dessen ihr gegenüberliegendem Ende – es mochten gut zwei Stunden des Weges sein – sich die Anhöhe ihrer heimatlichen Lichtung erhob.
Jedoch - in regentrunkener Luft - über Jener ein Regenbogen zu fußen schien und grellbläuliche Blitze verwandelten ihr Zuhause dort in fahle, gespenstisch zuckende Flackerbilder.
Dem Mädchen wurde klar, dass ihr Heimweg zu lang dauern – und im nahenden Gewitter ein gefährliches Unterfangen werden könnte. Also legte sie sich unter dem schützenden Felsen nieder, um das ganz sicher bald vorüberziehende Unwetter abzuwarten und hernach erholt ihren Heimweg antreten zu können.

Klara ahnte nicht, wie lang sie schon ruhte, als nahe ihres Felsens der herbeigezogene Regenbogen vor grauendem Himmel sein Haupt hernieder neigte und ihm ein Wolf entstieg. Wohl gesonnen trottete der schmächtige Wolf zu dem Mädchen, berührte es mit seiner kühlen Schnauze und sprach zu ihr „Menschenjunges, was tust du hier so allein – fernab jeder menschlichen Bleibe?“
Ein wenig überrascht, jedoch ohne jede Furcht rieb sich Klara die Augen und setzte sich neben ihn. „Guten Tag, lieber Wolf – ich bin Klara und lebe mit meiner Mutter auf einer Lichtung jenes benachbarten Berges“, und wies durch den aufsteigenden Dunst zum anderen Ende des Tales.
„Du lebst mit Deiner Mutter allein? Wo ist Dein Vater – weilt er auf Reisen?“ erkundigte sich der Wolf nachdenklich, denn für ihn, der ja in einem Rudel lebte, war es unvorstellbar, ohne Vater heranzuwachsen – wer sollte denn an dessen Statt einem Sprössling, wie er selbst es noch vor Kurzem war, die Dinge des Lebens vermitteln?
Mit Traurigkeit in ihrer Stimme antwortete Klara: „Schon vor vielen Monden rief unser König meinen Vater und viele Andere zum Kampfe in ferne Gefilde!“
Der Wolf neigte den Kopf ein wenig zur Seite und spitzte die Ohren zu Klara hin. „Dies bereitet dir Kummer, du armes Mädchen – doch sage mir, warum eigentlich ziehen Könige, die doch wahrlich keine Not leiden müssen, in Kriege“, wollte der junge Wolf wissen.
Klara zuckt betrübt mit den Schultern: „Ach ... ich weiß es nicht. Hm." Sie blickte in die Richtung der heimatlichen Lichtung und fügte hinzu: „Bevor er in den Krieg zog, sagte mein Vater, der König sei nicht müde von rechtschaffen(d)er Arbeit.“ Sie sah dem Wolf in das schwarzgraue Gesicht, aus dem, leuchtend wie Herbstlaub im September, zwei wache Augen ihr entgegen blickten. „Meinst du, lieber Wolf, so könnte es sein? Hat der König Langeweile ohne Krieg?“
Der Wolf kratzte sich hinter dem linken Ohr und sprach:
„Oh je, ich fürchte, ich weiß nicht, wie Langeweile sich anfühlt, aber es hört sich nicht gut an. Doch, was meinst du, Mädchen, lass uns doch gehen, die Antwort zu finden. Ja?“
Klaras Augen leuchteten auf.
„Fein, Wolf, das ist eine gute Idee. Aber, sage mir bitte: Hast du nicht einen Namen, bei dem ich dich rufen darf?“
Der Wolf senkte den Kopf. „Nein, Klara, ich habe noch keinen Namen, denn ich muss mir erst einen verdienen. Ich bin der Letzte meines Wurfes, der keinen Namen hat. Weil meine Geschwister mich seit eh und je kneifen und schubsen, mir das Futter aus dem Maule stehlen und mir verächtliche Blicke zuwerfen, wenn ich an meinem Lieblingsbaum sitze um nachzudenken, zog ich los, einen Namen zu finden.“
„Ach du armer Wolf“, sagte Klara und streichelte ihm die Stirn, wobei der Wolf die Lichter schloss. „Komm doch einfach mit mir und hab ein besseres Leben, als ein Prügelknabe zu bleiben.“
„Das kann ich nicht, Klara. Einer muss der Omega – der Letzte - sein und er ist genau so wichtig, wie das Alphatier, das das Rudel führt bei der Jagd oder auf der Suche nach dem rechten Platz für das Lager. Mein Platz im Rudel ist zwar leidvoll, dennoch, wenn es so sein soll, will ich diese Aufgabe meistern nach besten Kräften. Denn wisse, jeder hat eine wichtige Aufgabe in unserer Gruppe und jede Aufgabe bringt ihre ganz besonderen Freuden und Leiden mit sich. Jedoch brauche ich einen Namen, der mir gerecht wird, um meiner Selbst Willen. Trotzdem, du freundliches Menschenkind, hab Dank für Deine Einladung.“
„Wie du meinst, Wolf. Dann lass uns gehen, Deinen Namen zu finden und vielleicht auch die Antwort auf manche Frage.“
Der Wolf erhob sich, schüttelte seinen Pelz. „Ja, Klara, lass uns gehen.“ Er tat zwei Schritte, hielt inne und wandte sich zu dem Mädchen um, das wiederum beinahe auf ihn geprallt wäre. „Sag, wird Deine Mutter Dich nicht vermissen, Kind?“
Klara blickte zur Sonne, die inzwischen auch die letzten Gewitterwolken hinweg gedrängt hatte, und sich anschickte, lange Schatten in die Täler zu senden. „Meine Mutter ist gestern in die Stadt gezogen und ich erwarte sie nicht vor morgen Abend zurück. Also haben wir einen knappen Tag Zeit für unsere Suche. Dann möchte ich zu Hause sein, unsere Hütte fegen und schön herrichten, bevor meine Mutter müde zurückkehrt.“
Der Wolf nickte, wandte sein Haupt wieder voraus und schnürte voran. Klara sprang hinter ihm her, so schnell sie konnte.
„Warte. Warte bitte, Wolf, ich kann nicht so schnell laufen wie du“, drang Klaras atemloses Rufen durch das Rauschen der Bäume und entferntes Vogelzwitschern hindurch an des Wolfes Ohr. Er lauschte mit einem Ohr nach hinten ohne sich umzusehen und setzte sich um zu warten. Seine Augen suchten den Wald rundherum ab und sicherten den schmalen Weg vor ihnen. Als er das leise Knistern des angedorrten Mooses unter Klaras Füßen nahen hörte, drehte er sich zu ihr um. Da peitschte ein Knall durch den Wald und sogleich noch einer! Der Wolf lag plötzlich am Boden und Klara zwei kleine Schritte von ihm entfernt. Vielfacher Hall grollte heran, entfernte sich wieder und
verlor sich allmählich in den Wipfeln der Bäume. Klaras Herz klopfte, als säße ein Specht mit stumpfem Schnabel in ihrer Brust und wolle sich hinaus picken. Sie spürte in ihren Körper, doch nichts tat ihr weh und sie sprang auf. Ihr Blick fiel auf den Wolf, der mit weit aufgerissenen Augen bäuchlings auf dem Boden lag. „Lieber Wolf, was ist dir? Was war das für ein Krachen?“
Der Wolf hob leicht die Schnauze, ohne Klara anzusehen, scharrte mit der rechten Pfote neben seinem Kopf und knurrte: „Kmm rntr!“
Klara hockte sich zu ihm und fragte: „Wieso?“
„Der Mann mit den todbringenden Augen!“
„Was? Wer?“
„Duck Dich!“
Klara warf sich neben dem Wolf auf den Bauch und lugte zwischen den gelben Grashalmen hindurch dorthin, wo der Wolf irgendetwas nicht aus den Augen ließ. So sehr sie sich bemühte, sie konnte nichts entdecken. „Wonach schaust du?“
Der Wolf drückte sich fester ins Moos, lag scheinbar ruhig da, den Kopf leicht angehoben und nur das Zittern seiner Schnauzhaare verriet die Anspannung seines Körpers.
„Du“, Klara berührte ihn an der Schulter, „ich kann nix erkennen!“ Der Wolf neben ihr antwortete nicht. Sie zupfte ihn am rechten Ohr, das straff nach vorn gerichtet war, doch augenblicklich entwand sich das Ohr Klaras Fingern wieder.
„Pscht, Kind! Ruhig!“ Der Wolf presste sich nun noch dichter an den Boden, seine Augen folgten offensichtlich einer Bewegung weiter vorn links am Waldrand hinter der Wegbiegung. Klara konnte noch immer nichts Verdächtiges entdecken und blickte wieder den Wolf an, in dessen rechtem Auge sie von der Seite nun etwas flackern sah, das sie schaudern ließ: Angst! Jetzt endlich tat sie es ihm gleich, wagte kaum, den Kopf wieder zu heben und harrte der Dinge die da kommen würden.
Nach einer kleinen Ewigkeit bewegte sich der Wolf neben ihr plötzlich und flüsterte ihr zu: „Hab Acht! Auf mein Zeichen springen wir nach links ins Dickicht und du bleibst ganz dicht bei mir! Verstehst du?“
Klara nickte und blickte wieder nach vorn und da sah sie ihn – den Jäger. Sie erschrak, denn es war der Mann, den sie schon einmal im Wald gesehen hatte, als er ein getötetes Wildschwein aufbrach und dessen Eingeweide achtlos neben sich warf. Klara hatte sich damals hinter dichtem Gebüsch verborgen, bis er mit dem ausgeweideten Wildschwein im Schlepp von dannen gezogen war. Jetzt aber hatte sie noch mehr Angst vor dem Jäger, denn sie fürchtete um ihren Begleiter, den Wolf.
„Komm jetzt“, drang das Flüstern des Wolfes an ihr Ohr, doch sie konnte ihren Blick nicht von dem Jäger wenden. Furcht saß ihr in der Kehle.
Der Wolf stupste sie an. „Komm! Jetzt!“ Klara sah aus den Augenwinkeln, wie er aufsprang und auf den linken Waldsaum zu schlich. Sie war nicht mehr imstande zu denken, sprang ebenfalls auf und huschte ihm hinterher auf die wilden Himbeerbüsche zu, die der Wolf soeben in einem Satz übersprungen hatte. Für einen Moment verharrte Klara, blickte hastig um sich auf der Suche nach dem kürzesten Weg hinter das Gebüsch und wandte sich endlich nach links. Doch irgendetwas hielt sie am Jäckchen fest. Klara sah mit aufgerissenen Augen zu dem Jäger hin, der gerade den Weg von links her betrat, höchstens hundert Schritte von der Stelle entfernt, wo sie gerade noch im Moos lagen. Der Mann lief im Zickzack auf den parallel zum Weg verlaufenden Waldrand gegenüber zu, den Blick auf den Boden gerichtet und schien unmittelbar im Grase vor seinen Füßen etwas zu suchen. Klara hörte den gehauchten Ruf „Komm“ des Wolfes, zerrte an ihrem Jäckchen um sich zu befreien. Der Zweig, an dem ein Zipfel ihrer Wolljacke fest gehangen hatte, schnellte einige Male zurück, vor und wieder zurück, wodurch das Gebüsch erzitterte und die Zweige zu rascheln begannen. Der Wolf war hinter dem Buschwerk halb hervor gesprungen, umfasste mit seinem Maul Klaras linken Arm und zog sie hinter das Gebüsch. Klara stolperte hinterdrein und fiel. Der Wolf wandte sich um, seine Augen funkelten an ihr vorbei durch lichte Zweige des Himbeergesträuchs, seine Schnauze lag in Falten und seine Zähne waren halb zu sehen. Er knurrte leise. Klara hatte die Augen weit aufgerissen, starrte den Wolf an und wollte gerade seinem Blick folgen, als eine klare Männerstimme hinter ihr rief: „Kind hab keine Angst!“
Klara erbebte vor Schreck und blickte halb über ihre Schulter.
„Um Gottes Willen, Mädel! Nicht bewegen!“
Der Wolf zeigte nun vollends die Zähne, setzte sich jedoch. Klara wusste, sein Verhalten galt nicht ihr und blickte nach hinten. Oh Gott! Da stand der Jäger wenige Schritte entfernt und hatte seine Jagdflinte auf sie gerichtet. Klara begriff, nur sie selbst konnte verhindern, dass im nächsten Augenblick etwas Schreckliches geschehen würde.
„Es ist gleich vorbei, Kindchen, dann musst du keine Angst mehr haben. Mach die Augen zu. Er kann dir gleich nichts mehr tun!“
Klara durchfuhr ein Ruck. Sie sprang auf, packte mit beiden Händen den Wolf am Nackenfell und riss ihn halb um, als sie zur hinter ihnen liegende Fichtenschonung hastete. Der Wolf überschlug sich fast, stand sogleich wieder auf seinen vier Pfoten und blickte verdutzt um sich. Klara rief: „Komm mit!“ Sie sah, wie er sich in ihre Richtung wandte und stürmte die wenigen Schritte auf die ersten Bäumchen los. Zweige knackten unter schweren Stiefeln hinter ihnen. Klara hörte die gezähnten Zweige der Himbeersträucher an der Kleidung des Verfolgers kratzen und wieder sein bedrohliches Rufen: „Kind, lauf nicht weg! Fürchte dich nicht, ich erschieße ihn!“
Sie hatte das Gefühl, die Flinte des Jägers würde sich beinahe in ihren Rücken bohren. Nur die Bäume konnten sie beide retten. Klara sah sich halb um nach dem Wolf und sah ihn gerade noch rechts von ihr im Dickicht verschwinden. Sie riss die Arme hoch über den Kopf und sprang zwischen die jungen Fichten, deren untere Äste gegen ihren Bauch schlugen. Harziger Duft durchdrang ihre Sinne, betäubte die Panik in ihrem Herzen ein wenig. Klara lief weiter. Zweige peitschten ihre Brust, hieben ihr gegen Hals, Gesicht, doch Klara spürte es kaum. Sie rannte, duckte sich unter Bäumen hindurch und lief um des Lebens Willen.

Eilen auf der Stelle


Hängebrückenplanken von Pappmachè-
Seile, schleißend, knarren Lastenverdruss!
Moddernd brodeln düst’re Wasser,
Inmitten kentert ein Floss.

Stürme peitschen Lianen vorüber,
Ängste prügeln Energie,
Licht am Tunnelende kümmert -
Weltuntergangsgetöse – seltsam vertraute Disharmonie!

Unzählige Quellen drohen mein Denken
Für jegliche Zeiten zu ertränken!
Unvertäut, nußschalengleich treibt eine Seele -
Schreit auf mit dorrender Kehle:

Mich graut, zu geh’n ohne Spur nach mir -
mehr, denn das Leben zu missen -
Irrigen Pfaden folgen oder kehren meine Stirn!
WILL NOCH MEIN KIND GUTEN WEGES WISSEN!


Ich eile auf der Stelle,
suche mein Selbst und die Welt
zu erkennen in rasender Schnelle-
die mich aus mir reißt und quält!

Was nur, WAS kann ich tun,
diese Pein umzukehren –
diese weichende Brücke im Monsun -
meines Wesens an’s rettende Ufer zu queren?!

Gejagten Tieres angstweite Lichter –
Kindlichnaiv – arglos – verwundbar –
Brennen kühl-augenverglast in meinem Gesichte -
Des’ Spiegelbild ich nur manchmal war!

Bin denn ich des Sehens nicht fähig,
erblindet wie mein Stehaufmännchen-Vertrau’n?!
Hab’ denn ich meine Mitte entmündigt,
um besteh’n zu können in menschlichem GRAU’N?!


Bittersüß trotzend such’ ich noch immer,
Wieder und wieder irrend meinen Weg.
Aufgeben?! Aufgeben mag ich nimmer –
Gibt’s doch gewiß einen Sinn, daß ich leb’ -

Rechtschaffenen Frohsinn
Nach all dieser Schmach.
Will schlicht von Herzen lachen können
oder traurig sein, wenn die Zeit danach.

Will vergessen diesen Zwang,
abzuwägen mein Tun und Belang
vergessen, was And’rer Verlangen
mich nötigt, DEREN Achtung zu erlangen!

Ich bin doch ICH – und wahrlich nicht schlecht,
auch wenn mein Gewissen beständig mich ächtet -
aus diktiertem Pflichtgefühl – hin und wieder gerecht.
Doch wo bleibt meiner EIGENEN MITTE RECHT?!

Will mich bewegen, Etwas SCHAFFEN !
In schrillbuntem Gewirr das Garn meines Lebens pulsiert,
Pocht in mir - sprengt fast meine Schläfen!
Bis Heut’ bekam ich es kaum entwirrt!


~ SiDs ~ 6. September 2002
während meiner letzten Tage im geliebten Lositz

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Auszug aus der Novelle *Nebelpferde*, (meine erste Geschichte überhaupt mit allen Unzulänglichkeiten eines ersten Versuchs)


Was war es aufregend, als er – einst Meldereiter der Kavallerie – erstmals seit einem halben Jahrhundert wieder in den Sattel stieg!
Ich longierte seinen Braunen mit ihm auf dem Rücken achtsam durch die Gangarten. Derweil mein Vater sich mit erstaunlichem Geschick in dessen Takt einfühlte.
Schon nach wenigen Tagen ritten wir aus – manchen der mir altbekannten Wege  meiner Kindertage entlang.
Den Wind in unseren glückstrahlenden Gesichtern, flogen wir im Galopp über Wiesen und Bäche.
Auf einer Lichtung, die Pferde zur Rast ihrer Sättel entledigt, schauten wir - gelehnt an das Lederzeug im Grase – Wolkenbilder. Oder sahen einfach nur unseren beiden Pferden zu, wie sie sich an leckeren Kräutern labten. An denen lichtgeflutet zahllose Tautropfen prismengleich flimmerten.
Kindheitsträume gingen mir durch den Sinn.
Die Erkenntnis, dass ein Bedeutsamer nun real wurde, jubelte in mir. 
Noch viele solcher Ausritte waren uns vergönnt, doch jener Tag wird mir für immer in wundervoller Erinnerung bleiben.
Bisweilen kam es vor, dass Vater auch allein vom Hof ritt. Nach etlichen jener alleinigen Ausflüge erwähnte er bei abendlichem Gespräch einen „Landmann“ - wie er ihn nannte. Er war ihm ein ganzes Stück entfernt unseres Hofes bei dessen Ländereien begegnet. Wie Vater erzählte, bewirtschaftete dieser Landmann ganz allein ein Gut von beachtlicher Größe und züchtete seltene Pferde.
Fortan trafen sich die Männer häufiger. Sehr bald konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Vater auf seine alten Tage einen Freund gewonnen hatte.

Einige Zeit ging ins Land und mit ihr der beginnende Herbst in Begleitung seiner stürmenden Gesandten.
In einer solch stürmischen und dennoch von Mondlicht gezeichneten Nacht ließen die Hunde ihr Heulen ohne Unterlass gen Himmel erschallen. Ich lief hinaus, um sie ins Haus zu holen - wohlwissend, sie würden dort draußen sich selbst wie auch mir keine Ruhe gönnen. Mit Anastassia und Cheenook  im Gefolge, mich dem Hause wieder zuwendend, sah ich meinen Vater - im Licht des Mondes am Fenster seiner Kammer stehend. Ich winkte ihm zu. Jedoch sein Blick ruhte weit hinter der Koppel, wo Baumwipfel des nahen Waldes den Himmel zu berühren schienen. Er nahm mich nicht wahr. Achselzuckend ging ich ins Haus und gebot den Hunden Platz beim Schreibtisch in meinem Zimmer.

Erst am darauf folgenden Abend fiel mir meine Beobachtung wieder ein und ich brachte unser Gespräch darauf.
„Nebelpferde.“ antwortete Vater mit etwas verklärter Miene. Meine wohl sehr erstaunt in die Stirn ragenden Brauen mussten ihn sogleich zu näherer Erläuterung veranlasst haben. Denn nun fuhr er fort: „In lebhaften Herbstnächten, wenn des Mondes Licht wider den aufsteigenden Dunst feuchter
Waldungen hell den Horizont erreicht, wenn verstreute Wolkenfelder ihn sanft tändelnd umwerben und wenn das Geschick Deiner Sinne Dich geleitet, Deinen Blick von irdischer Wahrnehmung zu lösen, dann ist die Stunde der Nebelpferde. Die Zeit, da sie tänzerisch leicht den Horizont entlang galoppieren – ihnen voran ein Jüngling auf feurigem Ross.“
Begeistert, wie in den Frühen meiner Lebensjahre, hatte ich Vaters Worten gelauscht. „Nebelpferde ... Jüngling auf feurigem Ross“ sinnierte ich hörbar vor mich hin „all das mutet legendenhaft an.“
 „Ja, den Nebelpferden liegt eine Überlieferung zugrunde.“ bestätigte er, griff zu seiner Pfeife und stopfte sie bedächtig „Erst kürzlich las ich sie mit eigenen Augen.“.
 Zu gern wollte ich mehr über die Nebelpferde erfahren. „Papi, wenn du diese Geschichte kennst, bitte erzähl’ sie mir.“
Er sah mich kopfwiegend an „Die Legende der Nebelpferde und des Jungen zu erzählen, wird etwas Zeit brauchen.“
„Bitte. Ich würde sie so gern aus deinem Munde, mit deinen Worten hören.“  erwiderte ich schmeichelhaft.
 „Ach, was soll’s, heute ist ein guter Abend dafür.“ gab Vater nach und griff die Zündhölzer. Er nahm Eines heraus, strich es an und spendete zunächst der halbniedergebrannten Altarkerze auf dem Tisch von der Flamme.
Paffend steckte er seine Pfeife an und ließ wie gewohnt weißliche Kringel aufsteigen. Mit rascher Handbewegung löschte er das Hölzchen, bevor in der gebannten Stille, die den Raum erfüllte, es mit leisem Ton im Ascher landete.
Sein Blick wanderte bedächtig  zum Fenster. In letztem Licht der Dämmerung zogen silbern schimmernde Wolken vorüber.
„Nun denn!“ begann Vater.

DIE NEBELPFERDE
Hinter dem Horizont, der waldverliebt unsere Koppel grenzt, lebte einst ein Graf der zwei Dutzend Pferde besaß. Was nicht sonderlich ungewöhnlich war, jener Graf jedoch pflegte, die Herde frei auf seinen Ländereien leben zu lassen. Dies geschah sehr zum Leidwesen der auf seinem Allod in ohnehin entbehrungsreicher Fron stehenden Bauern. Doch, was hätten die Abhängigen anderes tun können, als dies im Schweiße Ihres Angesichts zu erdulden? Mussten sie nicht fürchten, in Ungnade zu fallen und ihrem Herrn noch mehr Tribut zollen zu müssen?!
Als er blutjung war, freilich, schien dieser Adlige noch das Herz auf dem rechten Fleck zu haben. War erfüllt von Träumen und Herzenswärme. Warum nur hatte er sich zu einem Tyrannen gewandelt? Niemand wusste auch nur einen Grund hierfür zu nennen.
Allerdings, seinem einzigen Kinde - ein liebreizendes und dennoch verwegenes Mädchen - schenkte er die wenige Herzenswärme, die er noch im hageren Leibe trug. So munkelte man.
Ja - und seine Leidenschaft galt den vor Lebenskraft nur so strotzenden Pferden die er züchtete. So zogen also die Pferde jahrein jahraus unbehelligt über das Land. Die Natur nahm ihren Lauf.
Manchmal kam es vor, dass des Winters unerbittliche Fröste schwächere Tiere merzten. Das mutet grausam an. Nicht wahr? Doch der Graf machte dies dem Ziel seiner Pferdezucht zunutze.
Alljährlichen Frühjahrs dann ließ er an einem eigens hierfür stattfindenden Festtag die Herde in einem Pferch zusammentreiben. Von den Fohlen des Vorjahres waren nur die Widerstandsfähigsten zu starken, gegen Krankheit gefeiten Jährlingshengsten und –stuten herangewachsen. Diese Tiere galt es einzufangen, um sie den vornehmlich hierzu angereisten feudalen Herrschaften bei einer Auktion gegen klingende Münze feilzubieten.

Eines schönen Sommertages trug es sich zu, dass ein armer Bauernjunge namens Klemens im Wald heimlich Holz für die Feuerstatt der kargen elterlichen Hütte sammelte. Wir er so hier und da kleine Äste auflesend lief, durchdrang ein merkwürdiger Laut die zuvor friedlich scheinenden Geräusche des Waldes. Klemens verharrte, lauschte ... . Da!! Da war es wieder! Wie schwerer Atem eines gehetzten
Tieres vernahm er es aus einem Dickicht unweit von ihm. Arglos, ein Rotwild vermutend, schlich er wider den Wind dem Laut nach.
Jedoch, was er zwischen dichtem Gezweig hindurch erspähte, konnte weder Hirsch, noch Reh sein! Er kannte kein Wildtier solchen Haarkleides, wie es dort hell durch das Gesträuch schimmerte.
 Vorsichtig huschte Klemens einen Baum näher. Sogleich noch Einen. Und traute seinen Augen kaum. Im Schutze des Gestrüpps lag ein Pferd, wie er es noch nie zuvor gesehen! Sein Fell zeigte die Färbung reifen Korns im Spätsommer. Mähne und Schweif dagegen wirkten wie von Ruß geschwärzt!
Leise ließ der Knabe seinen Korb mit Holz vom Rücken gleiten und ging ruhig zu dem offensichtlich einsamen Tier. Es war ein Fohlen, wie er erst jetzt bemerkte. Ein recht Großes zwar, dennoch sollte es nicht so allein hier im Wald liegen! Es machte nicht einmal Anstalten, zu fliehen!
Leise sprach Klemens auf das Fohlen ein, während er sich zu ihm hockte. Voller Mitleid streichelte er seine Stirn und wurde gewahr, dass er dieser bedauernswerten Kreatur helfen musste.
 Er sann einen Moment nach. Dann erhob sich wieder, um Futter zu suchen.
Kaum war Klemens einige Schritte gelaufen, entdeckte er zu seinem größten Entsetzen die Mutter des Fohlens. Nein, eher das, was von ihr geblieben war! Ein gar grausiger Anblick bot sich ihm! An den Spuren die sie umgaben erkannte er bestürzt, dass ein Bär sie gerissen haben musste. Kalter Schauder schüttelte den Knaben. Rundherum um die übel zugerichtete Stute fand er Zeichen ihres
erbitterten Kampfes auf Leben und Tod! Spuren ihrer Hufe sowie große als auch kleinere Abdrücke von Bärenpranken. Vermutlich hatte eine ihre Jungen führende Bärin dem Fohlen nachgestellt, welches dessen Mutter jedoch tapfer vereitelte und bitter mit ihrem eigenen Leben bezahlte! Nun wurde dem Jungen klar, weshalb das Fohlen so allein in der Nähe lag. Vorsichtig schaute er sich nach allen Seiten um. Vögel zwitscherten ausgelassen. Ein Bach plätscherte unverdrossen. Darüberhinaus aber war und blieb es ruhig – selbst der Eichelhäher schwieg mittlerweile.
Klemens atmete tief durch und verließ rasch den schrecklichen Ort.
Hastig sammelte er einige Waldkräuter. Sodann, wieder beim Fohlen angekommen, bot er die Büschel dem jungen Tier an. Doch es nahm sie nicht. Voller Sorge überlegte er, was er nur tun könne, das Fohlen zum Fressen zu bewegen. Nichts fiel im ein. Plötzlich kam ihm eine Idee. Unsicher wanderte sein Blick in Richtung der toten Mutterstute. Nein, das konnte er nicht tun! Wieder sah er das Fohlen an. Wie es dalag, schien es jeden Funken Lebenswillen verloren zu haben! Klemens fasste sich ein Herz und erhob sich.
Beklommen ging er noch einmal zu dem grausigen Schauplatz. Seinem eigenen Vorhaben widerstrebend zögerte er. Es grauste ihn. Er fühlte sich elend. Mit flehenden Augen sah er zurück, doch das Fohlen hob nicht einmal den Kopf. Das arme Tier dauerte ihn zutiefst. Mühsam überwand Klemens seine Scheu und fand sich plötzlich bei der Stute wieder.
Zaghaft machte sich daran, ihr Euter zu ertasten. Glücklicherweise fand er es schnell. Die Bären hatten es unversehrt gelassen.
Beherzt strich er einige Tropfen der Stutenmilch heraus und netzte damit die Kräuter in seiner Hand. Flugs lief er wieder zu dem verwaisten Füllen und hielt ihm das nunmehr weißtropfende Büschel hoffnungsvoll vor die Nüstern. Tatsächlich sog das arme Tier den nunmehr vertrauteren Geruch ein. Es richtete sich ein wenig auf. Sorgsam schob der Junge ihm das kostbare Futter ins Maul und gab Acht, dass sie auch verzehrt wurden. Noch mehr Futter sammelte er. Das Fohlen nahm auch diese an und vermisste inzwischen auch die Milch nicht.
Als Klemens wieder einmal sichernd umher sah, fiel sein Blick auf die nicht einmal halbgefüllte Holzkiepe. Die Schatten der Bäume waren kurz geworden. Schwärme von Mücken flirrten in flimmernder Luft.
Mutter erwartete ganz sicher schon ungeduldig seine Rückkehr! So strich er dem Fohlen noch einmal sanft über das gelbliche Fell und machte sich alsdann schweren Herzens auf den Heimweg.

Zappelig hatte Klemens seinen Hirsebrei gelöffelt.
Jetzt  stahl er sich wieder gen Wald davon. Sein Weg führte ihn an einem nahe beim Forst gelegenen Speicher vorbei. Kurzentschlossen ging er hinein um gleich darauf mit pochendem Herzen und einem Arm voller duftendem Heu zu seinem Schützling zu eilen. Dieser lag noch immer an gleicher Stelle, wo er ihn verlassen hatte. Liebevoll nötigte Klemens das Fohlen, eine Handvoll des leckeren Heus
aufzunehmen. Ganz langsam begann es die blassgrünen Halme zu zermalmen.
Ihm musste dürsten, besann sich der Junge. Hatte er nicht unweit der Stute das Plätschern eines Baches vernommen? Forschend lauschte Klemens in die Umgegend. Dort! Er sprang auf – derart unvermittelt, dass das Fohlen sich erschrak und plötzlich auf allen vier Beinen neben ihm stand!
Mit Bedacht mäßigte der Junge seine Freude darüber und griff mit einer Hand in die dunkle, noch recht kurze Mähne. Währenddessen berührten die weichen Nüstern seines Schützlings die Andere. Scheu schnuppernd stupste das Füllen sein warm-geschmeidiges Maul immer wieder hinein. Bis es mit seinen beweglichen Lippen an einem der Finger zupfte. Klemens verharrte gerührt ein Augenblick. Schließlich nutzte er die Gelegenheit, auf diese Weise mit dem erpichten Jungtier zum Bachufer zu streben. Es gelang ihm und sie verließen den bedrückenden Ort.

Mit jeder Handvoll erfrischendem Nass, die das Fohlen gierig schlürfte,  verwässerte auch der allerletzte Hauch von dem zweifelsohne betörenden Duft der Stutenmilch.
Klemens war überglücklich. Er hatte den Bann gebrochen. Mit seiner Hilfe hatte das verwaiste Füllen neuen Lebenswillen gewonnen.
Kaum war sein Durst gestillt, kaute es auch schon das erste selbstgerupfte Grün. Futtersuchend folgte es dem Bachlauf stromaufwärts. Gleichsam allmählich lichtete sich der Wald.
Plötzlich hielt es abrupt inne und spitzte seine Ohren zur angrenzenden Wiese hin. Lustig sah es aus, wie zwischen seinen Lippen die Grasstengel scheinbar vergessen hervor lugten, während es beharrlich äugte - wonach auch immer.
Doch nun vernahm Klemens ebenfalls Etwas - Hufschlag in  der Ferne! Der Graf?! Schon spannte sich sein Körper - bereit zur Flucht! Indes das Fohlen, trabte vollends aus dem Wald hinaus und ließ seinen Retter hinter sich. Erst jetzt schwoll der Hufschlag zu vielfachem Getrappel an. Und über dem Saum des gegenüberliegenden seichten Hügels nickten schon im Wechseltakt einige Köpfe heran galoppierender Pferde.
Erleichtert sauste der Junge dem Fohlen nach. Es sah zurück. Ja, schenkte seinem Wohltäter in diesem Moment seinen ersten freimütigen Blick. Und den Letzten dieses Tages.
Nach einem kecken Sprung auf der Stelle, stürmte es seiner Herde entgegen. Klemens blieb allein zurück. Er fühlte sich seltsam – in seinem glückseligen Herzen glomm Wehmut.

 Fortan lief Klemens sooft er nur konnte zu dieser Stelle zurück. Wie durch eine Wunder, fand sich stets zu seiner größten Freude über kurz oder lang auch sein vierbeiniger Freund bei ihm ein.
Die Zeit flog dahin. Bald wurden die Tage kürzer. Lang ließen die Fröste nicht mehr auf sich warten.
Klemens sorgte unverdrossen dafür, dass der Stapel Holz zu Hause neben dem Herd nie weniger wurde. Seine Mutter ahnte ja nicht, was den Jungen tatsächlich bei Wind und Wetter nach draußen zog.


Auch der strengste Winter geht einmal zur Neige! Auch das dickste Eis schmilzt - auch der dickste Winterpelz flockt aus im wärmenden Frühjahr. Wilder denn je sahen sie aus, die Pferde. Wie Vlies hing die dicke Unterwolle einem Jeden von ihnen im wechselnden Haarkleid.
Das Fohlen war zu einem kräftigen Jährling herangewachsen. Bald glänzte sein gelbliches Fell weithin sichtbar.

Unterdessen war den Augen des Grafen der so außergewöhnlich gefärbte Junghengst nicht entgangen! Ein Falbe! Frohlockte er für sich. Und er erwog, ihn im darauffolgenden Jahr einreiten - und zu seinen Reitpferden in den Stall bringen zu lassen. Andererseits, da war er sicher, würde dieses außergewöhnliche Pferd bei einem Verkauf ein stattliches Sümmchen einbringen!

Der Tag der Pferdeauktion rückte heran. Klemens, in Furcht vor dem drohenden Verlust seines Freundes, hatte manch schlaflose Nacht verbracht. Verzweifelt, seine bange Erregtheit zu verbergen suchend, schlich Klemens sich zum Pferch und lugte durch das Gatter hinüber zum Falben, der dicht aneinandergedrängt mit den anderen schutzsuchenden Pferden in der äußersten Ecke stand und am ganzen Leibe bebte.
Dem geliebten Pferd blitzte - völlig außer sich - das Weiß in seinen Augen.

SiDs, Frühjahr 2003

WIND

Winde atmen allgegenwärtig,
sowohl kraftvoll als auch zart.
Einmal laut tösend , zerstörerisch.
Dann wieder leis streichelnd mein Haar.

Wind zeugt von Leben , bringt es gar:
sei’s ein Samenkorn , sei’s Regen – dahin -
wo vielleicht er grausam schon war!
Mag scheinen bar jeden Sinn’s.

Wind murmelt durch die Wipfel der Bäume,
seinen Chor säuseln Gräser zart, leise.
Verhaltenen Schrittes träume
ich vertieft lauschend seine Weise.

Gesang ferner Zeiten entflammt
in mir Sehnsucht sirenengleich -
spüre des Windes Streicheln gleich Samt –
mag ihm folgen in sein endloses Reich.

Winde wissen um Anmut und Greuel –
Frohsinn und Zaudern und Mühsal -
Unbestand in kostbarer Welt -
der Menschen Natur und Wahl.

Hohen Berges windumspielt, einst
erkannt’ ein Knabe seinen steinigen Pfad.
Sieh! Seine Lehre wenn Du weinst
um Aller Schicksal verlorene Gnad.


SiDs
am Samstag, 15.6.2002

*********

Auszüge aus *Hüter des Lichts*


Robert starrte an die Decke. Der Schnee vom Hang gegenüber verlieh ihr einen bläulich-hellgrauen Schimmer. Von Ferne bellte ein Hund. Ja, einen Hund wollten sie sich anschaffen, aber erst wenn die Kinder groß genug gewesen wären. Einmal Neuseeland sehen. Die Alhambra. Taj Mahal …

Gitte zog die Wolldecke höher. Sie bemerkte nicht, dass das Buch von ihrem Schoß auf den Boden fiel. Eine Melodie. Gitte folgte ihr den Flur entlang zum Wintergarten. Ja, jetzt konnte sie sie deutlich hören. Es klang wie ein Kinderlied, doch sie kannte es nicht. Gitte betrat den Raum. Regen trommelte an die Fenster. Blitze zuckten durch die Nacht, doch nicht ein Donnerschlag folgte. Die Lichtgestalt saß im Schaukelstuhl und summte ein Lied für das Kind in ihren Armen. Nun hob sie ihr Haupt, sah Gitte an und erhob sich. Der Schaukelstuhl stand plötzlich still. Gitte tat einen Schritt auf das Lichtwesen zu, wollte etwas sagen, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Das Wesen lächelte und schien ihr etwas mitzuteilen, das Gitte nicht hören konnte, so sehr sie sich auch bemühte, es zu verstehen. Die Gestalt bewegte sich auf sie zu. Schwerelos.
Das Kind, war es ihres? Gitte lachte und weinte zugleich, streckte ihre Arme aus. Das Lichtwesen blieb stehen. Es sendete Gitte einen Blick, der in ihr eine warme Welle der Zuversicht auslöste und sie dennoch verhalten ließ. Sie hatte das Gefühl, das Wesen teile ihr etwas mit, das sie nicht zu hören vermochte. Sie sah, dass das Wesen kein Wort mit den Lippen formulierte und doch nahm Gitte eine Flut von Gedankenbildern wahr, die definitiv nicht ihrem eigenen Willen, ihrem Geist entsprangen.
Gitte fühlte sich, als säße sie in einem Karussell, versuchte, ein klares Bild zu erfassen – wenigstens eines! Ihre Hände ballten sich, die Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen ein. Sie spürte es kaum. Sie MUSSTE die Botschaft dieses Wesens begreifen! Ihr Karussell drehte sich schneller und schneller! Das Wesen mit dem Kind – nur noch ein Schemen, ein fliehendes Licht!
„Bleib. So bleib doch!“ Gitte schreckte auf, so heftig, dass der Schaukelstuhl, in dem sie lag, rasch auf und ab wippte. Ein Schmerz bohrte sich in ihren Ellenbogen. Als sie hin greifen wollte, spürte sie die tiefen Kerben in ihrer rechten Hand. An den Fingern der Linken war Gips unter den Nägeln und brannte wie Feuer im Nagelbett.
„Gitte, was ist?“ Robert stand plötzlich in der Tür. „Du hast so laut geschrien!“

...

Gitte schob ihr Frühstücksbrett beiseite, nahm einen Schluck Kaffee und musterte ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg. „Glaubst du eigentlich an Träume, Robert?“ Er verzog keine Miene, stand auf, nahm ihres und sein Brett und trug sie in die Küche. Dann ging er zum Ofen, nahm die Kanne Kaffee und goss sich ein.
„Du auch?“
„Danke, nein.“
Robert stellte die Kanne wieder auf den Ofen und setzte sich wieder.
„Nun, was hältst du von Träumen?“
„Wieso fragst du?“
„Jetzt weich nicht aus. Sags mir einfach.“
Robert ruckte auf seinem Stuhl hin und her, als säße er unbequem, dabei zog er erst die eine und dann die andere Schulter hoch und ließ sie wieder sinken.
„Na ja, Träume können schon etwas Gutes sein und sie sind wichtig, glaub ich, damit man nicht verrückt wird.“
„Du weißt, dass ich was anderes von dir wissen will, Robert. Also?“
„Ähem, na gut. Träume sind gut und schön, aber nicht mehr. Man sollte sich nicht zu sehr in so was rein steigern.“
„Meinst du?“
Robert nickte.
„Also, ich seh das anders.“
„Hat das irgend etwas damit zu tun, was du neuerdings träumst?“
„Zum Beispiel. Aber nicht nur. Ich denke, Träume sind ein Instrument des Unterbewusstseins, Geschehnisse aufzuarbeiten, aber auch Dinge, die man nicht getan hat, weil man sich lieber für einen anderen Weg entschieden hat. Ich bin auch überzeugt davon, dass Träume Wegweiser sind oder zumindest sein können. Sie zeigen Möglichkeiten auf und sie lassen uns manchmal Abenteuer erleben, auf die wir uns normalerweise niemals eingelassen hätten. Manchmal sind Träume auch einfach nur Metaphern, die mehr Bedeutungen beinhalten, als es auf den ersten Blick erscheint.“ Gitte stutzte.
„Was ist? Erzähl weiter, Schatz.“
Sie schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Das ist es, klar! Metaphern! Das sind Metaphern, die es mir sendet.“
„Was meinst du?“
„In diesen Träumen, das Lichtwesen, es sendet mir immer wieder Bilder. Es ist wie ein Bilderkarussell und ich bringe sie beim besten Willen in keinen Zusammenhang. Dabei ist das doch ganz simpel, weil jedes Bild für sich zu sehen ist und nicht in unbedingtem Zusammenhang mit den anderen. Jedes Bild enthält eine Metapher. So muss es sein!“
„Liebes, mach dich doch nicht verrückt deswegen, das sind nur Träume ohne jede Bedeutung!“
„Du kennst diese Träume nicht, Robert. Sie sind anders. Ich kann das nicht beschreiben. Irgendwie alles durchdringend. Die Bilder sind vielschichtig wie mehrfach belichtete Fotos und ich glaube, man darf sich nicht krampfhaft bemühen, sie zu entziffern. Eher muss man sie ihre Wirkung, ihren Sinn selbst entfalten lassen.“
Robert beugte sich vor, seine Stirn lag in Falten als er sie unter hoch gezogenen Augenbrauen hervor ansah. „Meinst du nicht, dass du jetzt ein klein wenig übertreibst?“
Gitte lehnte sich zurück und schürzte die Lippen. „Nein. Überhaupt nicht. Versteh doch, dieses Wesen will mir etwas mitteilen, das uns beide, dich und mich, betrifft – unser Leben und, ich bin überzeugt davon, dass das auch etwas mit unserem Kind zu tun hat.“
„Wir haben doch gar kein Kind, Gitte! Schon vergessen?“
„Noch nicht, Robert. Noch!“
„Du bildest dir doch nicht etwa ein, dass diese Kreatur, von der du träumst, etwas damit zu tun hat, ob wir endlich mal Kinder haben werden.“
„Warum nicht?“
„Jetzt hör aber auf! So’n Quatsch“
Gittes Augen strahlten unter ihren Wimpern hervor.
Robert winkte ab und lehnte sich zurück.
„Ach genug davon.“ Er sah durch das Fenster hinüber zum Garten. „Du, ich habe mir Gedanken gemacht, wie Fienes Gruft aussehen könnte.“

...

Gitte warf die Decke zurück, Bilder sausten ihr durch den Kopf und hatten den Schlaf vertrieben. Sie versuchte das Zifferblatt des Weckers zu entziffern, aber es war noch zu dunkel. ‚Egal, ich bin hellwach und bis ich wieder eingeschlafen bin ist es sowieso Zeit zum Aufstehen.’ Sie zog sich leise an und ging hinunter in die Küche. Wenige Minuten später brodelte schon das Wasser. Gitte spuckte den minzigen Schaum ins Waschbecken, steckte die Zahnbürste in ihr Glas zurück, griff hastig mit beiden Händen ins Handtuch und tupfte sich das Gesicht trocken. Sie nahm ihre Lieblingstasse aus dem Abtropfkorb, maß zwei Teelöffel Kaffee ab und goss ihn auf. Der Geruch von Zahncreme mischte sich mit dem Duft des Kaffees. Sie ging mit ihrer Tasse zum Küchentisch und setzte sich an ihren Platz, wo sie schon Stift und Block bereit gelegt hatte. Sie pustete in ihren Kaffee und setzte die Tasse an den Mund, setzte sie aber sogleich wieder ab und begann zu schreiben:
Fünfter Traum (Vision?)
Diesmal in der Werkstatt, dort, wo ich mir den kleinen Arbeitsplatz eingerichtet habe, um die Figuren für Fienchens Gruft zu formen. Ich arbeitete an der Katze aus Ton, als ein goldener Lichtschein auf meine tonverschmierten Hände fiel. Ich hatte nichts zuvor bemerkt, keinen Laut, nichts. Ich drehte mich zur Seite und da stand es, das Lichtwesen. Es war allein und nickte mir zu. Wie immer, wirkte es freundlich und erhaben zugleich. Ich verbeugte mich leicht, sagte aber nichts (ich glaube, wenn man es anspricht, verschwindet es). Dann hielt es beide Hände über meinen Kopf und obwohl es mich nicht anfasste, spürte ich seine Berührung am ganzen Körper. Es fühlte sich an wie warmer Schnee der in mich hinein rieselte. Jede Faser in mir schien ihn aufzusaugen und bald hatte ich das Gefühl angnehmer Weite in mir, meinem Kopf, meinem Herzen und in meinem Bauch. Dann kamen die Bilder. Oder, war es nur eines, das wie ein Vexierbild mehrere Bilder enthielt – man muss sie nur auf sich wirken lassen und den Blickwinkel verändern?
Zuerst sah ich eine Höhle mit unzähligen ovalen Luken. Sie war offensichtlich bewohnt. Vor der Höhle befand sich eine Art weitläufiges Portal, das nach außen wie ein Schutzwall aussah, nach innen zur Höhle hin aber mit vielen Stufenreihen versehen war, die im Halbkreis um den Eingang zur Höhle angeordnet waren. Direkt vor dem Eingang stand eine lange steinerne Tafel und eine Bank, ebenfalls aus Stein. Ich hatte das Gefühl, ich könne fliegen – überall hin, in jede Ecke, jede Luke. Und das versuchte ich. Es gelang mir, näher an eine dieser Luken heran zu fliegen, doch bevor ich hinein schauen konnte, wechselte das Bild. Ich war wieder auf dem Saum des Schutzwalls. Jetzt sah ich viele Flatterwesen geschäftig wie ein Bienenschwarm ein und aus fliegen. Manche spielten aber auch miteinander. Eines tauchte plötzlich direkt vor mir auf und lachte mich an. Es sah aus wie ein Mensch, doch hatte es zwei Flügelpaare, die sich sirrend auf und ab bewegten. Es betrachtete mich mit seitlich geneigtem Kopf, flog nach links, nach rechts, um mich herum und blieb dann wieder vor mir in der Luft stehen – wie ein Kolibri. Dann streckte es die linke Hand in meine Richtung, flog ein wenig nach links und schwenkte seinen Arm von mir zu der Höhle hin. Ich folgte der Handbewegung mit den Augen, sah das Wesen noch einmal an, um mich zu vergewissern, dass es mich meinte. Es nickte mir zu und ich folgte ihm zu Fuß so schnell ich konnte, doch ich kam nicht hinterher. Als das Flatterwesen dies bemerkte, kehrte es zu mir zurück, hielt sich die Hände vors Gesicht und kicherte verlegen. Dann hob es beide Hände und schnippte mit den Fingern. Ich spürte plötzlich einen Widerstand an meinem Rücken, als würde ich mit meinen Schulterblättern Luft fächeln. Das Flatterwesen flog nun rückwärts vor mir, beide Arme leicht ausgestreckt und winkte mich mit den Händen in seine Richtung. Ich flatterte ihm nach, als hätte ich noch nie etwas anderes getan. Ich war so neugierig, was denn dieses freundliche fliegende Menschlein mir alles zeigen würde, dass ich mich überhaupt nicht wunderte, wie leicht es mir fiel, zu fliegen.
Wir flogen allerdings nicht weit, nur durch das Portal vor der Höhle und dann in die Eingangshalle. Hier schwirrten unzählige solcher geflügelten Menschen umher, dass mir fast schwindelig wurde. Ich zögerte. Plötzlich bildeten sie einen Kreis um etwas, das ich nicht sehen konnte. Ein jedes streckte seine Arme zu seinem Nachbarn zur Linken und zur Rechten aus und sie bildeten einen Reigen. Dreimal kreisten sie um ihr Zentrum herum – einmal nach links, einmal rechts herum und dann wieder nach links. Dann ließen sie sich wieder los, hoben die Arme alle zugleich vor sich und schnippten mit den Fingern. Sie fassten sie bei den Händen, streckten sie nach oben und flatterten in die Höhe. Ich konnte in ihre Mitte sehen. Dort war ein Kind das mit einer Katze spielte. Ich blickte kurz hinauf zu den über mir flatternden Wesen. Ihr Reigen senkte sich und umschloss nun das Kind, die Katze und mich.
Eines von ihnen flatterte auf mich zu - ich erkannte das Flatterwesen das mich hier hinein geführt hatte - es verbeugte sich vor mir und sprach: „ Herzlich willkommen in der Kaverne der Elfen, Frau Gitte. Möge das Licht immer mit dir sein.“
Ich war perplex, fand keine Worte und, selbst wenn ich etwas zu sagen gewusst hätte, ich hätte es nicht auszusprechen gewagt, denn ich fürchtete, all dies würde sich in Nichts auflösen. Ich sah in die Runde und hatte das Gefühl, sie würden mich ermuntern, zu tun, was meinem Herzen am nächsten lag. Ich versuchte einen Schritt zur Mitte hin, wo noch immer das Kind mit der Katze spielte. Nichts geschah, alles blieb und ich wagte einen weiteren Schritt, noch einen und noch einen. Das Kind blickte zu mir auf und ich erkannte es aus meinen früheren Träumen. Selbst das Baby aus den ersten zwei Träumen erkannte ich in ihm. Die Katze maunzte und kam zu mir. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass es Fienchen war. Sie strich mir um die Beine und begann zu schnurren. Ich bückte mich um sie zu streicheln, doch sie entwich mir. Verschreckt zog ich meine Hand zurück. Fienchen schnurrte noch immer, stellte sich vor mir auf und setzte ihre Pfoten eine hinter die andere, als wolle sie mich locken, ihr zu folgen. Ich wagte es nicht und blickte unsicher zu dem Flatterwesen, das eben mit mir gesprochen hatte.
„Nur zu, keine Scheu, Frau Gitte. Dies ist dein Augenblick. Es ist deine Vision. Nichts kann passieren, von dem du nicht willst, dass es geschieht.“
Ich raffte alle Zuversicht zusammen, öffnete den Mund, schaute auf die Reaktion dieses Wesens, die mich nun tatsächlich ermutigte, das Wort zu ergreifen und fragte: „Seid ihr wirklich Elfen?“
“Ja. Aber, verzeih mir, ich habe mich nicht vorgestellt.“ Es kreuzte die Füßchen und machte einen Knicks. „Ich bin Mienchen, Neoelfin seit dem letzten Vollmond.“
„Elfen. Neoelfen. Ich verstehe nicht.“.
„Keine Sorge, das wirst du und ich bin bestellt, dir dabei zu helfen. Aber nun eins nach dem anderen. Sicher fragst du dich, weshalb du heute hier bist und was es mit dem Kind und der Katze auf sich hat.“
Ich nickte. „Es ist Fienchen, unsere Katze. Sie war verunglückt.“
„Meinst du wirklich, dass sie das war?“
„Aber sicher, ich selbst habe sie mit meinem Mann beerdigt.“
„Du meinst den Körper, der Fienchen in jenem Leben gegeben war. Was du hier siehst, ist ihr eigentliches Wesen.“
„Ihre Seele?“
„Wenn du magst, kannst du es Seele nennen, aber darauf allein beschränkt es sich keineswegs. Doch, wie gesagt, eins nach dem anderen.“
„Das Kind, ich habe es schon früher gesehen. Was hat es mit ihm auf sich? Ich spüre, dass mich etwas mit ihm verbindet.“
„Das ist wahrlich nicht verwunderlich, doch, dies zu erklären bin ich nicht befugt. Das kannst allein du selbst.“
„Wie sollte ich mir die Herkunft dieses Kindes erklären können, wo ich es doch nur aus meinen Träumen kenne.“
„Visionen, Frau Gitte, Visionen.“
„Wie kann es sein, dass ausgerechnet ich Visionen erlebe?“
„Auch auf diese Frage wirst du die Antwort selbst finden. Ich kann dir lediglich sagen, dass Träume Erlebnisse, Wünsche sowie eine geheimnisvolle Mixtur aus Phantasie, Glücksgefühlen und Ängsten sind. Visionen aber beinhalten Rätsel, die dein Schicksal dir stellt um deiner Seele den einen oder anderen Weg aufzuzeigen.“
„Welche Wege?“
„Vergeude nicht deine Zeit mit Fragen, die keiner Antwort bedürfen. Halte deine Sinne unbedeckt und du wirst sehen.“
Fienchen strich wieder zwischen meinen Beinen hindurch, rieb ihren Kopf an meinen Knöcheln und sah mich aus lodernden Augen an. Dies waren nicht Fienchens Augen! Ich wich zurück. Fienchen setzte sich vor mich hin, ihren Blick unverwandt auf mich gerichtet. Ich überwand meine Unsicherheit und ertrug ihre flammenden Augen, sah tief hinein und entdeckte eine Gestalt darin, die mich seit Wochen, Monaten im Geiste beschäftigte: Das Lichtwesen! Ich traute meinen Augen kaum, doch da, in Fienchens Augen, fand ich meine Zuversicht wieder. Ich war bereit ihr zu folgen. Sie führte mich zu dem Kind. Ich hockte mich zu ihm und beobachtete, wie es mit einem Stöckchen Figuren in den Sand zeichnete, die ineinander übergingen und doch war jede einzelne ein Bildnis für sich allein. Ich versuchte, die verworrenen Linien auseinander zu halten und ihre Gestalt annehmen zu lassen bis alles vor meinen Augen verschwamm. Ich erhob mich wieder und blickte in die Tiefe der Furchen im Sand und entdeckte einen Horizont über dem halb die Sonne verschwand. Diese halbe Sonne bewegte sich. Oder, waren es nur ihre Strahlen, die sich wie Arme empor reckten, als rangen sie um Hilfe? Halt! Ich rieb mir die Augen. War das nicht das Lichtwesen? Oh ja, eindeutig! Jetzt entzifferte ich vor ihm, unter ihm düstere Gestalten, die es zu Boden zu reißen versuchten! Sie waren verhüllt, hielten ein jedes einen Arm über seinen Kopf und in dem anderen ein Schwert, das sie bedrohlich dem Lichtwesen entgegen reckten! Ich konnte ihr Kriegsgeschrei vernehmen, sie jaulten: „Fangt das Licht! Kerkert es ein im dunklen Verlies!“ Doch ich hörte noch etwas anderes. Es klang hell hinter dem Horizont hervor: „Rettet das Licht, ihr Hüter, die ihr aus seiner Kraft genährt werdet! Hütet das Licht!“ Eine Wolke schob sich hinter der halben Sonne herauf, schwoll an und gab drei Schwärme Elfen frei.
Ich hockte mich wieder zu dem Kind und fragte es: „Was ist das?“
Das Kind sah mich an, blickte wieder auf das Bild im Sand und begann, es mit kleinen kreisenden Bewegungen seiner Hände darüber hinweg zu verwischen. „Es heißt: ‚die Erlösung’.
„Halt ein“, rief ich und griff das Kind an einem Arm, „mach es nicht kaputt!“
Es sah mich mit großen runden Augen an und antwortete: „Wenn ich es bestehen lasse, wird es nicht vollendet!“
„Warum? Wenn du es verwischst, kann doch niemand sehen, dass es vollendet ist.“
„Du sagst es. NIEMAND muss es SEHEN, damit es vollendet werden kann!“
„Das verstehe ich nicht. Was willst du mir damit sagen? Niemand ist Keiner, nicht Mensch, kein Elf!“
„Genau, Keiner ist Niemand! Verstehst du?“
Ich wollte schon nicken, doch etwas in mir rief: „Nein.“
Das Kind erhob sich, legte seine Hände an meine Wangen und sprach: „Wenn Keiner Niemand ist, muss Niemand Jemand sein! Doch Niemand weiß, dass ausgerechnet er oder auch sie jener JEMAND ist! Jemand, der die Erlösung zur Vollendung bringt und so die Tragödie dieser Metapher auflöst.“ Das Kind senkte den Kopf. „Damit der letzte Tag nie herauf dämmern möge. Erst, wenn die immer währende Dämmerung dem Licht nichts mehr anhaben kann, werde ich meine Mutter gefunden haben.“
Ich glaubte, zu begreifen, was die Worte des Kindes zu bedeuten hatten. „Ich wünsche von ganzem Herzen, dass dieser Jemand sein Schicksal, seine Berufung zu erkennen vermag.“
„Das wird nicht genügen. Du musst fest daran glauben.“
Und vor meinen Augen wurde das Kind jünger und jünger, war gleich darauf ein Kleinkind; ein Baby, dessen Strampelanzug immer weiter wurde; ein Neugeborenes; Embryo ... bis es nur noch aus stetig schrumpfenden Zellen bestand; einer Zelle; einem „Q“; einem O, Sandkorn, Staub, nichts! Meine Augen schmerzten, meine Schläfen pochten, mein Herz schlug mir gegen die Kehle und ich spürte meine Beine nicht mehr. Als ich fiel riss mich ein Sog rückwärts und die Bilder, die ich gerade erlebt hatte liefen rasend schnell in umgekehrter Reihenfolge ab. Das Kind, das Bild, der Reigen, ich flog rückwärts, Mienchen riss die Hände von ihrem Gesicht, ich lief rückwärts, entfernte mich vom Portal, der Kaverne der Elfen und erwachte mit einem Blick auf das verblassende Lichtwesen, das an meinem Bett gestanden haben musste.
Gitte legte den Stift beiseite, knetete ihre verkrampfte Hand und nahm dann einen Schluck von ihrem Kaffee, der lauwarm ihre Kehle hinab rann. Während sie trank glitt ihr Blick über die rechte Tür des Küchenschranks auf der ein rotgoldener Fleck leuchtete und der Küche einen wärmenden Glanz verlieh. Sie stand auf, trat ans Fenster und sah in die Glut der aufgehenden Sonne bis sie heller wurde, ihre Konturen verlor und plötzlich in ein tiefes Orange wechselte, das sich mehr und mehr zu Violett verfärbte. Erst jetzt entdeckte Gitte die von Nordosten herüber wallende Wolkenformation. ‚Damit der letzte Tag nie herauf dämmern möge. Erst, wenn die immer währende Dämmerung dem Licht nichts mehr anhaben kann, werde ich meine Mutter gefunden haben.’ Gitte sah wieder das Kind vor sich, wie es zu ihr sprach und anschließend eins wurde mit dem Sand in der Kaverne der Elfen. ‚Was hat das zu bedeuten? Warum erlebte ich diese Vision? Bin ich der einzige Mensch, der sie kennt? Der Einzige? Jemand. WER IST JEMAND? Ein Auserwählter? Ein Mensch, der Elfen hilft das Licht zu schützen? Wie absurd! Elfen in dieser Welt! Menschen in jener Welt? Menschen unter den Hütern des Lichts?
‚Ach was, das war nur ein Traum – ein Hirngespinst’, rief eine Stimme in ihr. ‚Pah, Bilder, die reden können, sich bewegen? So etwas gibt es nicht, Gitte! Wach auf!’ Gitte schlug die Hände vors Gesicht, rieb sich die Augen, schüttelte den Kopf. Doch die Metaphern blieben und die Stimme in ihr verlor sich in glucksenden Lauten. Über ihr stampfte etwas über hölzernen Boden, eine Tür quietschte, Schritte auf der Treppe. Gitte hielt sich die Ohren zu. Sie spürte, wie ihre Schultern umfasst wurden, spürte heißen Atem ihren Nacken entlang streichen und wollte sich der Umklammerung entwinden ... dann, ein Kuss netzte ihren Hals.
„Guten Morgen, Liebes.“

Gitte kniete vor dem Rosenbeet auf der Terrasse und zupfte Vogelmiere aus dem Boden. Sie warf das Büschel auf das Häufchen Unkraut neben sich und richtete sich auf. Sie streckte und dehnte sich, griff in den Kragen ihrer Jacke und zog daran.
„Gitte? Komm doch mal rüber.“ Sie strich sich mit dem Handrücken über die Stirn und drehte sich zu Robert um, der im Garten über die Straße hinter ihr damit beschäftigt war, die Figuren in Fienchens Gruft einzufügen. Sie holte tief Luft, stützte sich mit der einen Hand auf dem Boden ab und stand auf. Sie ging zur Bank, zog dabei ihre Jacke aus und ließ sie im Vorübergehen darauf fallen. Sie zögerte kurz. ‚Waren das die metallenen Knöpfe meiner Jacke, die gerade wie Glöckchen geklungen hatten?’ Sie blickte kurz hin und schüttelte den Kopf. ‚Komisch.’
„Was ist, Robert?“
„Ach, ich finde, das passt irgendwie nicht.“
„Was?“
„Na, hier, die Mäuse. Das sieht aus, als würden sie sich lustig machen über die Katze! Findest du nicht auch?“
Gitte kniff die Augen zusammen und musterte erst die tönerne Katze, die vor der Gruft hockte und sich mit einem Pfötchen über das Gesicht zu wischen schien und dann die Mäuse. Eine von ihnen stand aufrecht auf der linken Ecke, die andere erweckte den Eindruck, von der rechten Ecke herunter hangeln zu wollen und eine Etage höher putzten sich zwei weitere Mäuschen – eines von ihnen den Kopf und das andere kratzte sich am Hinterteil.
„Hm. Vielleicht sollten wir sie anders anordnen.“
„Die Katze?“
„Nein, die Mäuse. Hm, ich hätte die Katze anders machen sollen. Meinst du nicht auch?“
„Sie ist genau richtig so“, piepste es über Gitte und Robert.
„Was hast du gesagt?“
„Ich hab nix gesagt. Du warst es, Gitte.“
„Ich? Nein.“
Robert schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
„Wie machen wir das nun?“
„Lasst es so, sie sind keine Feinde und das ist gut für diesen Platz.“
Gitte und Robert blickten zugleich auf die vorderen Enden des geschwungenen Daches über der Gruft, von dem vier Beinchen in türkisfarbenen Strumpfhosen und fliederfarbenen Schuhchen baumelten.
Robert griff nach Gittes Arm, erwischte nur den Hemdsärmel und zog daran. „Was ist das?“ Blass stand er da und seine Augen tasteten mit geweiteten Pupillen die kleinen Beine entlang nach oben, wo breite goldfarbene Gürtel zwei zarte Taillen umschlangen, darüber kurze königsblaue Jäckchen, und purpurrote Hütchen zierliche Gesichtchen halb bedeckten.
Gitte stand bewegungslos, die Augen unverwandt auf das kleine Gesicht des Einen gerichtet. Leise sagte sie: „Mienchen.“ Erst jetzt entdeckte sie die filigranen Flügelchen im Licht der hochstehenden Sonne glitzern.
„Was hast du gesagt? Hast du sowas schon gesehen?“
„Ich glaub, ja“, antwortete Gitte leise. „Elfen.“
„E... Was?“
„Ja, wir sind Elfen“, piepste das geflügelte Wesen, das über seinem Jäckchen noch eine goldene Schärpe trug, „und wir kommen in wichtiger Mission.“
Robert und Gitte blickten sich gegenseitig an, wobei Robert sich unsicher die Haare aus der Stirn strich und die Schultern hob. Gitte musterte wieder die beiden Elfen, sie kaute auf der Unterlippe, während sich zwei tiefe Falten zwischen ihre Brauen gruben. Der Elf mit der goldenen Schärpe wandte sich nun direkt an sie.
„Frau Gitte, wir sind Abgesandte von Heliodoris und haben dir eine Botschaft zu überbringen.“ Er warf Robert einen kurzen Blick zu und fuhr fort: „Mit Verlaub, Herr Robert, hierzu müssen wir deine Frau allein sprechen. Wir bitten dich um Verständnis.“
Robert kratzte sich hinterm Ohr und stammelte: „Ich verstehe überhaupt nicht, was hier vor sich geht. Wie kommt ihr hier her? Welchem Märchen seid ihr entsprungen? Und wer ist Heli..., ähem, Helo...“
„Heliodoris ist das Ewige Licht. Das Volk der Elfen wurde dazu berufen, es zu schützen als es ins Exil fliehen musste.“
„Also doch ein Märchen! Ein Trick! Genau, das muss ein Trick sein“, Robert lief um die Fienchens Gruft herum, blickte um sich und dann wieder auf die zwei Elfen.“
„Robert“, sagte Gitte mit belegter Stimme, „ich glaube, das ist weder ein Trick, noch sind diese Elfen hier einem Märchen entschlüpft. Ich werde mit ihnen ins Haus gehen, um zu hören, welche Botschaft sie für mich haben.“ Sie nickte den Elfen zu und wandte sich zur Gartenpforte.
„Was soll der Quatsch? Gitte? Gitte!“
Gitte blickte Robert über die Schulter an und sagte: „Das ist in Ordnung so. Vertrau mir.“ Sie ging über die schmale Brücke und über die Straße. Die Elfen flogen ihr auf Schulterhöhe hinterdrein. Robert ging zur Gartenbank unter dem Apfelbaum und ließ sich darauf fallen.

Gitte ließ die Elfen in die Küche ein, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich rückwärts dagegen. Die Elfen hatten sich inzwischen auf den Zweigen des Hibiskus niedergelassen und sahen sie zwischen den lachsfarbenen Blüten sitzend an. Gitte schloss die Augen und versuchte sich an ihre letzte Vision zu erinnern. Eigentlich fiel ihr das nicht schwer, doch diese Bilder in ein Verhältnis zu den zwei Elfen zu bringen, die im Hibiskus auf dem Fensterbrett saßen, das wollte ihr nicht so recht gelingen.
„Frau Gitte? Geht es dir gut?“
Gitte öffnete die Augen. Direkt vor ihrem Gesicht flirrte Mienchen und berührte sie an der Wange. Es war keine Berührung im üblichen Sinne; Gitte empfand sie wie eine warme Welle, die bis in die kleinste Faser ihres Körpers strömte. Plötzlich fühle sie sich besser, stark genug, zu hören, was ihr die Elfen zu sagen hatten.
„Also, ich bin bereit für eure Botschaft.“ Gitte ging zum Küchentisch, nahm den Stuhl, der dem Fenster am nächsten stand, rückte ihn vor die Fensterbank und setzte sich aufrecht hin, die Hände auf die Knie aufgestützt. Sie schaute in zwischen die leuchtenden Blüten hindurch zu den Elfen, die wie brave Kinder auf einem Zweig saßen. „Was ist eure Mission, Flo und Mienchen?“ Für einen kurzen Moment kam ihr der Gedanke, wie es wohl aussähe, wie sie hier sitzt und offenbar mit einem Hibiskus spricht. Flo richtete als erster das Wort an sie:
„Du hast die Metaphern des Lichts empfangen?“

...

Wichtig ist, dass du dir der Tragweite deiner Visionen bewusst bist.“
„Ich bin nicht sicher, was ich davon halten soll.“
Nun wandte sich Mienchen an Gitte. „Du entsinnst dich an mich?“
„Ja, sogar erstaunlich gut, Mienchen. Du warst es, die mich in die Kaverne der Elfen geleitet hat.“
„Gut. Und, was erinnerst du noch?“
„Unsere Katze Fienchen und das Kind, es hatte ein Bild in den Sand gezeichnet und wollte es zerstören, noch bevor es vollendet war.“
„Was weißt du noch von dem Bild?“
Gitte kaute auf der Unterlippe. „Es stellte eine Kampfszene dar, glaub ich, oder einen drohenden Angriff von – ich weiß nicht, was das für düstere Gestalten waren.“
„Du meinst sicher die Gnome. Sie bedrohen das Licht. Sie wollen es gefangen nehmen, weil sie das Tageslicht hassen.“
„Was hat Heliodoris mit dem Tageslicht zu tun?“
„Heliodoris ist das Licht, verstehst du, Frau Gitte. Ihm verdanken wir jeden neuen Tag, an dem die Sonne – seine Mutter - uns ihr wärmendes Strahlen schenkt.“
„Er ist das Kind der Sonne?“
„Es ist ein Kind der Sonne. Sie hat viele Kinder, und Heliodoris ist das eine ihrer Kinder, das sie zur Erde entsendet hat. Würde ihm etwas geschehen, und sei es auch nur die Gefangenschaft im Schattenreich der Gnome, würde sich seine Mutter von uns abwenden aus Gram um dieses Kind. Sie würde sich in einem letzten Leuchten aufbäumen und verglühen. Wir Erdenkinder, selbst, wenn wir die darauf folgende Dämmerung erleben würden, wären dem sicheren Untergang geweiht. Ich denke, die Konsequenzen muss ich dir nicht näher erläutern, Frau Gitte.“
„Die Erde ohne Licht? Nicht auszudenken! Was kann man dagegen tun? Kann man überhaupt irgend etwas dagegen machen?“
„Deshalb sind wir hier. Heliodoris hat uns aufgetragen, dich um Hilfe zu ersuchen.“
„Mich? Wieso ich? Ich bin doch niemand besonderes.“
„Erinnere dich, Frau Gitte! Was hat das Kind zu dir gesagt, als du es hindern wolltest, das Bild im Sand zu verwischen?“
„Oh, das war so etwas wie ein kompliziertes Wortspiel, glaub ich.“
„Denke nach“, riefen Flo und Mienchen gemeinsam, „DENKE NACH!“
Gitte zog die Stirn kraus und kaute auf der Unterlippe.
„Also, ich sagte, wenn es das Bild zerstört, wird niemand es sehen. Darauf hat es geantwortet, dass es genau so ist: Niemand muss es sehen, damit es vollendet wird. Jemand ist Niemand und Niemand kann jeder sein, oder so ähnlich.“
„Und, du bist sicher, dass du dieses Bild gesehen hast?“
„Ja, ich denke schon. Es hat sich sogar bewegt.“
„Was, meinst du, hat bewirkt, dass sich das Bild bewegt hat?“
Gitte hob die Schultern und streckte die Handflächen nach vorn. „Keine Ahnung. Hm“, sie wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen, „vielleicht war es eine Projektion, ein Trick, ja, ein Trickfilm eventuell?“
Flo unterbrach sein dezentes Kopfnicken. „Beinahe richtig. Doch nicht so ganz.“
„Na dann weiß ich nicht.“ Gitte zuckte wieder mit den Achseln, doch plötzlich hellten sich ihre Gesichtszüge auf und in ihren Augen funkelte eine Idee. „Magie?“ Sie schlug sich mit den flachen Händen auf die Oberschenkel. „Natürlich, warum hab ich nicht gleich daran gedacht! Es muss Magie sein! Wenn es Elfen gibt, warum dann nicht auch Zauberei?“
Flo hob die Hände, senkte sie ein wenig und hob sie wieder. „Oh, oh – nicht so schnell mit den jungen Pferden. Zauberei ist nicht Magie, Frau Gitte.“
„Wieso? Ich dachte ...“
„Zauberei, musst du wissen, hat etwas mit Illusion zu tun; sie ist sozusagen der geschickte Umgang mit mehr oder weniger ausgefeilten oder gar authentischen Zauberformeln unter Zuhilfenahme unterschiedlichster besprochener Gegenstände. Leider gibt es auf diesem Gebiet sehr viel Stümperei und Missbrauch. Nicht so die Magie. Sie ist eine Gabe, bedarf keines gesprochenen Wortes, dafür jedoch eines starken Charakters, großen Willens und vor allem der stark ausgeprägten Fähigkeit, organische als auch anorganische Materie schwingen zu lassen, zu bewegen, in der Form, Struktur oder Platzierung zu verändern. Man nennt das kurz: ...“
„Aha, davon habe ich schon gehört. Da gibt es einen Mann, der kann Löffel verbiegen.“
Flo und Mienchen schmunzelten und Flo sagte: „Hm, ja, so etwas gibt es durchaus, aber das gehört wieder in ein anderes Fachgebiet und hat mit Magie ansich nichts zu tun. Doch, wir schweifen vom Thema ab. Du verstehst jetzt, wovon wir sprechen, wenn wir Magie sagen?“
„Hm, ich denke, ja.“
„Nun gut, belassen wir es fürs Erste dabei.“ Flo räusperte sich, während Mienchen und auch Gitte ihn mit großen Augen ansahen. „Also, Heliodoris hat heute morgen den Rat der Elfen einberufen und seine Überzeugung offenbart, dass du, Frau Gitte, auserwählt bist, den Zwist um das Licht zu einem guten Ende zu bringen – dem Ende, das Anfang zugleich ist. Nämlich der Beginn der Ära von Licht und Schatten im Gleichgewicht.“
„Halt, halt! Was soll das heiß..“
Flo machte eine freundliche aber strikte Handbewegung, die Gitte auf der Stelle schweigen ließ. „Lass mich bitte ausreden, Frau Gitte, denn damit du verstehst, musst du alles hören! Sicher, dies ist eine außergewöhnliche Aufgabe für einen Menschen, doch, wisse: nur eine Kreatur reinsten Herzens, sehenden Herzens, wird in der Lage sein, sie zu erkennen, anzunehmen und zu bewältigen. Ein jeder von uns Elfen würde sich geehrt fühlen, mit dieser Aufgabe betraut zu werden, doch das bleibt unserem Volk verwehrt, weil wir selbst in diesen Zwist verstrickt sind. Denn, wir sind die Hüter des Lichts und somit befangen. Die Wichtel könnten dem Licht zwar helfen, doch sie halten sich bedeckt, weil sie Eremiten sind – zumindest die meisten von ihnen. Dann wäre da noch unser Waldschrat, doch der ist derzeit unpässlich weil der Wald zu erkranken droht. Ich sage es unverblümt: er neigt momentan dazu, das Licht für den krankenden Wald verantwortlich zu machen. Also ist auch er befangen. Ja, und unsere Fee, Iseldara, befindet sich selbst in arger Bedrängnis, weil sie dazu verdammt ist, in den düsteren, zugigen Gängen Katakomben im Land der Gnome vor sich hin zu dämmern! Ihre eigene Schwester hat sie verflucht, unglaublich“, Flo schüttelte den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht. Mienchen legte ihm den Arm um die Schultern und berührte seine Stirn mit der ihren. Für einen Moment meinte Gitte, einen gelben Funken von Mienchen zu Flo überspringen gesehen zu haben, doch sie war sich dessen nicht sicher.
„Oh Gott, wenn ich euch nur helfen könnte!“
Mienchen wandte sich ihr zu und rief: „Du kannst, Frau Gitte, du kannst es!“
„Wie könnte ich das, da ich doch selbst nicht daran glaube?“
„Nein, nein, nein! Sag das nicht! Du warst doch bei uns, letzte Nacht! Glaubst du denn wirklich, so etwas geschieht einfach so mir nichts dir nichts? Mach dir bewusst, was es heißt, von Heliodoris, dem Kind des Lichts, berufen zu sein, Frau Gitte! Heliodoris hat dir die Tür zur Offenbarung gewiesen, seine Metaphern sind der Weg zur Erkenntnis – zur Weisheit des Orakels in den Wassern tief am Grunde von Vadissee!“
Flo schreckte auf und rief: „Mienchen, zügle deine Zunge! Alles zu seiner Zeit. Wie soll Frau Gitte verstehen, was wir ihr vermitteln wollen, wenn du den Schwanz am Kopf anbindest?“
„Verzeih, ich vergaß, wie das ist, die Einheit von menschlicher Rationalität und mentaler Kraft herzustellen Ich wollte einfach nur helfen wie du mir damals in den ersten Tagen geholfen hast, als ich zu euch kam.“
„Du darfst nicht vergessen, dass Frau Gitte erst seit nicht einmal einer Stunde weiß, dass ihre Visionen tatsächliche Erlebnisse waren.“
Gitte zuckte zusammen. „Aber doch nicht alle! Oder?“
Flo und Mienchen blickten sie mit hoch gezogenen Brauen an.
„Doch?“ Gitte spürte feuchtkalte Blässe in ihrem Gesicht und gleich darauf presste sich ein unerträgliches Hitzegefühl von innen gegen jede schockgekühlte Porenöffnung an ihrem Körper. „Auch die erste? Und die zweite? Als das Lichtwesen, Heliodoris, mir das Baby geben wollte?“
„Natürlich, das war dein ...“
“Mienchen!“
„Mein was? Traum? Kind? Meine Zukunft?“
Flo erhob sich und flog auf Gittes Hand, die sie wissbegierig ausgestreckt hatte. „Frau Gitte, diese deine Fragen werden ihre Antwort finden, wenn die Zeit daran ist. Heute aber gilt es, nur eine Frage zu klären: Wirst du uns beistehen, Heliodoris, seiner Mutter Sonne und damit allen irdischen Wesen zu helfen – auf dass es nach jeder künftigen Nacht ein Morgen geben möge, damit Dämmerung Ruhe- und Kraftfinden gleichermaßen bedeutet. Bist du bereit dazu? Oder, willst du der Dinge harren, die da kommen werden?“
Gitte stützte ihre Ellenbogen auf die Knie und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Gedankenfetzen schossen ihr durch den Sinn. Ein Schattenheer von Gnomen; das händeringende Lichtwesen; ein Baby in ihren Armen, das zu Staub zerfiel – die Arme – ein Sieb; Fienchen, dessen glühende Augen verloschen; Mienchen, deren Flügel zerbröselten wie die Flügel eines Schmetterlings zwischen groben Fingern und Robert mit einer brennenden Kerze in der einen Hand, während er mit der anderen das flackernde Licht zu schützen suchte ... Sie sah auf zu den zwei Elfen, die nun auf dem Rand des Hibiscustopfes standen und flüsterte: „Ich kann nicht“, sie richtete sich auf und sah durchs Fenster hinüber in den Garten, wo Robert noch immer auf der Bank saß und auf das Dach von Fienchens Gruft stierte. „Robert wird nicht verstehen ... er braucht mich und wenn ich jetzt gehe, dann werden ihn die Selbstzweifel zerfressen.“
„Mit der Zeit wird er verstehen“, sagte Flo.
„Hmh“, lachte Gitte bitter, „und was ist mit dem Schmerz? Ihr wisst nicht, wie er leidet, wenn er mich nicht in Sicherheit weiß.“
Flo flirrte aufs Fensterbrett und sah zu Robert hinüber. „Du meinst seine Angst, dich und jede Chance auf seine Familie zu verlieren?“
„Woher ... ähem, ihr wisst davon?“
„Natürlich.“
„Wie lange schon habt ihr uns beobachtet? Denkt ihr wirklich, das ermutigt mich, euch zu folgen?“
„Wir haben dich nicht beobachtet, Frau Gitte. Du selbst hast uns eingelassen in dein Leben, wie auch wir dir gestattet haben, uns zu besuchen, wann immer du an der Pforte standest. Visionen sind keine Träume. Visionen öffnen Türen zwischen deinem Unterbewusstsein und der Welt, wie sie wirklich ist; und Türen verbinden, wenn sie geöffnet sind. Wir wissen von der Krise zwischen dir und Robert, dass er dich mit seiner übersteigerten Fürsorge einengt.“ Flo hatte sich Gitte wieder zugewandt und hob seine Hände. Gitte spürte, wie ihr Gesicht Flos Handbewegung folgte, ohne es beeinflussen zu können und blickte nun trotzig in die leuchtend blauen Augen dieses kleinen geflügelten Menschleins – zumindest schien es ihr so, als hätte sie ein Menschlein vor sich – und sagte: „Bei all dieser Enge fühle ich mich allein. Warum, wenn ihr doch immer in meiner Nähe gewesen seid?“
„Dies, Frau Gitte, ist das Geheimnis deines Schicksals. Wir Elfen dürfen beobachten, vielleicht sogar Ratschläge erteilen – in Rätseln, versteht sich -, aber niemals, nie, nie, nie haben wir die Befugnis, in das Leben der Menschen einzugreifen um ihnen Entscheidungen abzunehmen. Jede Kreatur auf dieser unserer Welt ist verantwortlich für ihre eigene Zukunft, trägt selbst die Verantwortung für ihren Umgang mit den Konsequenzen des Schicksals und für ihre Fähigkeit, dem Leben die Stirn zu bieten.“
Flo senkte seine Hände. Gitte ließ ihre Stirn in ihre Hände fallen und schüttelte den Kopf. „Was soll ich nur machen? Das ist einfach zu viel auf ein Mal!“
Mienchen raufte sich die Haare und rief: „Oh nein, das war mein Fehler! Ich hätte mich nicht hinreißen lassen sollen, so viel zu verraten! Das tut mir so Leid. Ich werde Heliodoris nie wieder unter die Augen treten können, ohne vor Scham in den Boden zu versinken!“
Flo beugte sich zu ihr, griff ihren Arm und zog sich wieder auf die Beine. „Hermine, du hast keine Schuld an Frau Gittes Zweifeln. Ich hätte es wissen müssen, dass die Zeit zu knapp ist für eine solch schwer wiegende Entscheidung. Doch wir mussten erst sicher sein, dass die Schatten der bevorstehenden Tragödie nicht unsere Sinne vernebeln. Frau Gittes Besuch letzte Nacht in unserer Kaverne erst schenkte uns das nötige Minimum an Gewissheit.“ Er blickte zu Gitte, sah, wie ihr Fingernägel sich tief in ihre Stirn eingruben und fügte hinzu: „Komm, Mienchen, lass uns gehen – wir können hier nichts mehr ausrichten. Sie ist noch nicht bereit.“
„Wie können wir jetzt einfach so gehen, Flo? Wir haben nichts ausgerichtet. Nichts! Was sollen wir Heliodoris sagen?“
„Das, was Frau Gitte uns gesagt hat: Es ist zu viel für sie. Sie kann sich ihrer Aufgabe nicht stellen.“
„Was soll nur werden, wenn Niemand bereit ist, das Licht zu retten?“
„Ich weiß es nicht, Mienchen. Noch nie bisher habe ich vor dieser Frage gestanden. Noch nie zuvor hatte ich wie jetzt gerade das Gefühl, alle Kraft würde mich verlassen. Nie empfand ich meine Beine als so bleiern schwer und meine Flügel als nutzlosen Ballast.“
Von draußen her war ein Stapfen zu vernehmen, gefolgt vom Quietschen der Haustür. Gleich darauf wurde die Küchentür ein wenig geöffnet und Robert steckte seinen Kopf durch den Spalt. „Ich will ja nicht stören, aber, wie sieht’s aus, Gitte, ist eure geheime Besprechung bald beendet? Ich habe nämlich gewaltigen Hunger.“
Gitte hob den Kopf und stützte ihr Kinn in die Hände. Ihre Stirn war unter dem Haaransatz von acht tiefen, sich violett verfärbenden Kerben gezeichnet. „Hm?“
Robert sah sich um. „Sind sie wieder fort?“
„Die zwei Elfen? Nein, Flo und Mienchen sind noch hier.“ Gitte wies auf die Fensterbank, gleich neben den Hibiskus-Blumentopf. „Siehst du sie?“
„Dann dauert‘s wohl noch?“
„Nein, Herr Robert, bleiben sie ruhig. Das spielt jetzt sowieso keine Rolle mehr“, rief Flo, so laut er konnte.
„Was? Ruhig spielt eine Rolle im Meer? Ich glaub, ich versteh eure Sprache nicht.“
Flo und Mienchen sahen sich gegenseitig an und rollten mit den Augen, lächelten aber dabei. Gitte stand auf und schob den Stuhl geräuschvoll mit ihren Beinen nach hinten. Sie ging zwei Schritte auf Robert zu und sagte: „Einen Moment noch, Schatz. Bitte.“ Sie strich mit dem Handrücken ihrer rechten Hand kurz über seine Wange.
„Na gut, aber höchstens fünf Minuten“, er versuchte, zu grinsen – doch sein fragender Blick strafte ihn Lügen, „sonst muss ich ... ach, was weiß ich!“ Er schloss die Tür. Seine Schritte waren noch einen Moment den Flur entlang zu hören, dann schlug die Tür zur Töpferwerkstatt schwer ins Schloss.
Gitte blieb bei der Tür stehen und drehte sich halb zu den Elfen um. „Wie kann sich ein Elf so schwer fühlen, dass er seinen Auftrag nicht zu Ende bringen kann? Tja, ich kenne Elfen nur aus Märchen und den Geschichten, die meine Großmutter mir an düsteren Winterabenden erzählt hat. Aber eins weiß ich genau: solange es auch nur ein klitzkleines Fünkchen Hoffnung gab, gaben sie nicht auf! Nie!“ Sie ging zum Fenster, stellte sich direkt davor auf, stemmte ihre Hände in die Taille und sagte mit fester Stimme: „Gut, ich sehe euch zwei hier vor mir auf der Fensterbank und ich habe auch noch im Ohr, was ihr eben zu mir gesagt habt. Das klang alles erstaunlich glaubwürdig, zugegeben. Aber, was mir ganz übel aufstößt ist, dass ihr aufgeben wollt, wo doch so viel davon abhängt – wenn es wahr ist, was ihr mir da eben erzählt habt. Also, ehrlich gesagt, mir kommt das hier so vor, als hätte ich gerade einen dieser sonderbaren Träume! Und, wisst ihr was? Wenn ich mich jetzt gleich in den Arm zwicke, wird dieser Spuk auf der Stelle vorbei sein.“ Gitte tat, wie gesagt und kniff sich herzhaft mit der rechten Hand in den linken Unterarm. „Autsch?“ Ihre Augen erwartungsvoll auf das Fensterbrett mit den Elfen gerichtet, erstarrte sie, als weder das eine, noch das andere oder gar beide verschwanden. „Ihr seid noch da“, stellte sie fest und rieb sich die gerötete Stelle am Arm. „Ähem. Also, ist es wahr? Ihr seid Abgesandte des Lichts? Von Heliodoris? Es stimmt, dass Heliodoris in Gefahr ist, dass Iseldara, die Fee, von den Gnomen verschleppt wurde? Das Bild, das das Kind mir zeigte, als ich letzte Nacht bei euch in der Kaverne war, das habe ich mir nicht eingebildet? Und ... ich soll euch wirklich begleiten? Ich, meint ihr, bin der auserwählte Niemand, der Jemand ist, Euch zu helfen? Jetzt?“
„So ist es, Frau Gitte, und mit Verlaub: die Zeit drängt! Das Schicksal wartet nicht.“
„Einen Augenblick noch“, rief Gitte, lief zur Tür, riss sie auf und keine Sekunde später fiel die Tür zur Töpferei ins Schloss.
Flo stupste Mienchen in die Seite und als sie ihn ansah, nickte er zu den lachsfarbenen Blüten des Hibiskus hin. „Wollen wir?“
„Dürfen wir das?“
„Aber ja, Mienchen, ich denke, wir haben uns das schwer verdient.“
„Oh ja, das will ich meinen“, antwortete Mienchen, flirrte zu einer der Blüten hin und begann, von dem süßen Nektar zu naschen. Flo ließ sich gleich neben ihr in der benachbarten Blüte nieder und tat es ihr gleich.
Als die Tür aufging, streckten die beiden Elfen verdutzt ihre Köpfe aus den Blütenkelchen. Verlegen versuchten sie den orangefarbenen Blütenstaub von ihren Gesichtchen zu wischen.
Robert kam herein gestürmt, sah sich wie irre in der Küche um und schrie: „Wo seid ihr? Zeigt euch!“
„Sie sind dort, im Hibiskus auf dem Fensterbrett.“ Gitte war hinter ihrem Mann in die Küche gekommen. Ihr Gesicht war blass, tiefe Falten furchten sich quer durch ihre Stirn und sie knetete ihre Hände. „Robert, bitte reg dich doch nicht so auf. Glaub mir doch, es ist unglaublich wichtig, dass ich mit den Elfen gehe.“
„Und ich bin wohl nicht wichtig, oder was?“
“Natürlich bist du mir wichtig, Liebling, mehr als du dir vorstellen kannst. Aber ...“
„Nix aber, es liegt doch klar auf der Hand, dass du gerade dabei bist, mich zu verlassen.“
„Nein, nicht doch, Robert. Bitte.“ Sie wandte sich an die Elfen. „Helft mir doch bitte, ich kann es ihm nicht erklären – er versteht mich einfach nicht.“
Flo war inzwischen wieder auf das Fensterbrett geflogen und sagte: „Das ist nicht verwunderlich, Frau Gitte. Er ist gekränkt, ist nicht bereit, diese Entwicklung zu akzeptieren. Du musst ihm helfen, zu verstehen. Nur du allein kannst seinen Schmerz, seine Wut, lindern. Du kannst das und du wirst ihm soviel Zuversicht geben, dass er es aushält, dich gehen zu lassen.“
Robert hatte mit funkelnden Augen den Elfen gemustert, während er zuhörte. Und er musste genau hin hören, um die ungewohnt zarte Stimme verstehen zu können. Deshalb stand er mit vor gestrecktem Oberkörper da, als wäre er im hastenden Lauf eingefroren. Nun schob sich Gitte in sein Blickfeld, umfasste seine Schultern und zog ihn an sich. Er sträubte sich zaghaft, unter der Haut seiner Wangen arbeiteten die Kaumuskeln. Seine Stirn zeichnete sich markanter ab als ohnehin schon, seine Augen lagen wie glimmende Kohlen tief in den Augenhöhlen.
Gitte hatte das Gefühl, sein Anblick zerreiße ihr das Herz. Sie schluckte und begann, mit heiserer Stimme auf ihn ein zu reden. „Robert, ich verlasse dich nicht, glaube mir. Da ist nur eine Aufgabe, von der ich bis vorhin nichts ahnte, die ich annehmen muss. Hier geht es nicht mehr um dich oder mich, nicht um uns beide. Es geht um die alles entscheidende Frage, ob wir je Kinder haben werden, deren Tage sich von den Nächten unterscheiden. Verstehst du mich?“ Sie rüttelte an seinen Schultern und blickte ihm dabei tief in die Augen. Er hob den Kopf, blickte sie kurz an und sah dann an ihr vorbei durch das Fenster hinaus.
„Was hat das alles zu bedeuten, Gitte?“

 An dieser Stelle endet meine Auswahl aus Lichthüter.

SiDs seit 2005

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